Art Nouveau um 1900. Jugendstil aus Frankreich und Belgien

Jan 02, 2024 at 11:04 1101

Seit dem 7. Dezember 2023 und noch bis am 14. April 2024 zeigt das Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus in Berlin, die Ausstellung Art Nouveau um 1900. Jugendstil aus Frankreich und Belgien.

Der Katalog zur Ausstellung, herausgegeben von Anna Grosskopf und Tobias Hoffmann: Art Nouveau um 1900. Jugendstil aus Frankreich und Belgien. Hirmer Verlag, Dezember 2023, 192 Seiten mit 150 Abbildungen in Farbe, 24 x 28 cm, gebunden. Mit Beiträgen von Anna Grosskopf und Tobias Hoffmann. ISBN: 978-3-7774-4336-2. Alle Cookies akzeptieren, um direkt zur Amazon-Seite des Buches zu gelangen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Die Zeit um 1900 war nicht nur der Höhepunkt von Art Nouveau bzw. Jugendstil mit naturhaft bewegten Linien, geschwungenen (ich: organischen) Formen und einer ausschweifenden Lust am Dekor, sondern zugleich eine Zeit des Umbruchs, in der Industrialisierung und Urbanisierung, Imperialismus und Kolonialismus, Frauenrechte und Durchbrüche in Wissenschaft und Technik die Welt massiv veränderten.

All das verlangte in Kunst und Design Neuerungen, was unter anderem zur „Neuen Kunst“ (französisch: Art Nouveau) führte. Frankreich und Belgien spielten beim Siegeszug des Jugendstils eine führende Rolle.

Das 1983 eröffnete Bröhan-Museum in Berlin hat sich dieser besonderen und widersprüchlichen Epoche verschrieben. Der Jugendstil, insbesondere seine französische Variante, der Art Nouveau, bildet den Schwerpunkt der Sammlung, wie Joe Chialo, der Berliner Senator für Kultur und Gesellschaftliche Zusammenhalt in seinem Katalog-Grusswort festhält. Er verweist darauf, dass das Museum auf die Initiative des Unternehmers und Kunstsammlers Karl H. Bröhan (1921-2000) zurückgeht, der 1973 seine Sammlung zunächst als Privatmuseum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. Die Jubiläumsausstellung Art Nouveau um 1900. Jugendstil aus Frankreich und Belgien feiert den 50-jährigen Geburtstag der Sammlung als Berliner Landesmuseum.

Anna Grosskopf trägt sechs Essays zum begleitenden Katalog bei, der Direktor des Bröhan-Museums, Tobias Hoffmann, ein Vorwort sowie ein Kapitel zum Thema Japonismus.

Kunst, Technik und Industrie

Tobias Hoffmann schreibt in seinem Vorwort, dass sich das Verhältnis des Menschen zu den Gebrauchsgütern durch die Serienfertigung veränderte. Das Objekt war nun kein Unikat mehr, sondern Teil einer Serie, hatte viele Dubletten. Ästhetische Überlegungen spielten in der frühen Serienfertigung keine Rolle. Dem stellte laut Tobias Hoffmann die Reformbewegung um 1900 das handwerklich gefertigte Einzelstück entgegen – und damit in gewisser Weise die Fetischisierung des Objekts. Im Gegensatz zu den maschinell hergestellten Objekten wurde nun ausdrücklich die Gestaltung thematisiert, und diese Unikate wurden auch noch dadurch aufgewertet, dass man sie zur Kunst erklärte. Entweder wurden Künstlerinnen und Künstlerin den Entwurfsprozess mit eingebunden oder die Handwerkerinnen und Handwerker schulten sich künstlerisch und wurden damit selbst zu Künstlerinnen und Künstlern. Der Bereich der Kunst wurde um die „angewandte Kunst“ erweitert. Das nouveau des französischen Fachterminus Art Nouveau steht sowohl für eine neue Kunst im Sinne einer neuen, bisher noch nicht da gewesenen Kunst, aber auch auch für neu im Sinne eines neuen Bereichs der Kunst.

Tobias Hoffmann betont, unter dem Einfluss von Barock und Rokkoko, entwickelte sich mit dem Art Nouveau in Frankreich und Belgien eine ganz eigene Reformbewegung. Der Museumsdirektor betont, der Art Nouveau habe der Industrialisierung ein Zurück zur Natur und eine Flucht in eine Traumwelt entgegengesetzt und stehe damit sowohl für eine Bejahung der neuen Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts wie auch für eine eskapistische Weltflucht. Gerade dieser Dualismus mache seinen besonderen Reiz aus.

Ich würde Tobias Hoffmann hier teilweise widersprechen: Anders als das Arts and Crafts Mouvement in Grossbritannien, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf das Handwerk betonte und den Jugendstil beeinflusste, waren die (französischen) Vertreter des Art Nouveau nicht technik- und maschinenfeindlich. Die Association de l’Ecole de Nancy (Gallé, Daum, Majorelle, etc.) stipulierte im ersten Artikel ihrer Gründungsstatuten von 1901:

Il est formé, sous le nom d'“ÉCOLE DE NANCY“, une Association régie par la loi du 1er juillet 1901 et par les présents statuts. L’École de Nancy, Alliance provinciale des industries d’art, a pour but de favoriser la renaissance et le développement des métiers d’art en province.»

Künstler und Industrie stehen sich nicht feindlich gegenüber, sondern arbeiten zusammen, um die Kunst in den lokalen Industrien zu fördern. Wir befinden uns in der Industrieregion Lothringen. Von Fortschrittsmüdigkeit konnte keine Rede sein.

Im Katalog betont dies übrigens Anna Grosskopf in einem Beitrag unter dem Titel „Natur als Inspiration“ zurecht. Sie schreibt, dass interessanterweise weder Louis Majorelle noch Emile Gallé ihre Naturmotivik mit einer industriefeindlichen Haltung verbanden. Im Gegenteil: Beide leiteten in Nancy grosse Betriebe, in denen ein guter Teil der Produktion automatisiert ablief. Gerade Majorelle verstand sich als „Kunstindustrieller“ mit dem Anspruch, zu expandieren und seine Möbel weltweit anzubieten.

Art Nouveau als Gesamtkunstwerk

Anna Grosskopf schreibt in einem kurzen Beitrag zum Stichwort „Gesamtkunstwerk“, dass die Idee eines mehrere Künste in sich vereinenden Gesamtkunstwerks in der deutschen Romantik wurzelte und durch Richard Wagner Mitte des 19. Jahrhunderts weithin Bekanntheit erlante. Wagners Theorie, nach der sich Musik, Dichtungund Tanz in einem grossen Bühnenwerk verbinden sollten, liess sich auf architektonische Projekte übertragen und eroberte bis zur Jahrhundertwende ganz Europa. Anna Grosskopf unterstreicht, die gotische Kathedrale sei rückwirkend zum Prototyp des Gesamtkunstwerks erklärt und durch Antoni Gaudí in seiner 1882 begonnenen Sagrada Família inB arcelona neu interpretiert worden. Die englische Arts-and-Crafts-Bewegung habe das Konzept adaptiert und dafür sogar den Begriff „Gesamtkunstwerk“, der im Englischen bis heute als deutsches Lehnwort gebraucht wird, übernommen.

Anna Grosskopf unterstreicht, dass William Morris’ Red House von 1859/60, in dem Architektur, Möbel, Textilien, Fenster- und Wandgestaltungen sowie Kunst- und Gebrauchsgegenstände zu einer Einheit verschmelzen, stilbildend war. Es inspirierte Heinrich Vogelers Barkenhoff (1901) in Worpswede ebenso wie die Künstlerhäuser auf der Darmstädter Mathildenhöhe. Die Autorin betont, ein wichtiger Multiplikator war der aus Belgien stammende, in Deutschland und Frankreich tätige Architekt und Designer Henry van de Velde. Sein Wohnhaus Bloemenwerf in Uccle bei Brüssel zeige deutlich den Einfluss Morris’, während die raumkünstlerischen Gesamtkunstwerke, die er in Berlin für Harry Graf Kessler schuf, einen eleganteren, grosstädtisch-verfeinerten Stil repräsentierten.

Anna Grosskopf betont gleichzeitig, dass die Villen des Art Nouveau ästhetisch nichts mit Morris’ rustikaler Cottage-Architektur gemein haben, doch sie fussten auf demselben Konzept. Die Vorstellung, dass das Haus seine Bewohnerinnen und Bewohner wie eine kostbare Hülle umgibt und im Inneren einen perfekt durchgestalteten ästhetischen Raum bildet, indem die Kunst das Leben vollständig durchdringt, sei auch den französischen und belgischen Art-Nouveau-Bauten eigen.

Anna Grosskopf verweist mit dem Belgier Victor Horta auf einen Pionier dieser Architektur. Er erregte 1892/93 mit dem in Brüssel erbauten Hôtel Tassel europaweit für Aufsehen. Besonders seine neuartige grossflächige Ornamentik aus bewegten, ineinander verschlungenen Linien, die sogenannte „Peitschenschlag-Linie“ (ligne coup de fouet), machte Schule und wurde insbesondere in Frankreich vielfach variiert.

Anna Grosskopf betont den Einfluss von Victor Horta auf den Franzosen Hector Guimard, der wie wohl sonst niemand die Einheit von Architektur und Raumkunst konsequent umgesetzt habe: Von der architektonischen Gesamtanlage und Fassadengestaltung über die Möbel, Teppiche, Tapeten und Armaturen seien seine Häuser und Villen stilistisch ganz aus einem Guss.

Hector Guimard lernte den nur wenige Jahre älteren Victor Horta 1895 in Brüssel kennen und wurde von ihm mit den Stilprinzipien des Art Nouveau vertraut gemacht. Anna Grosskopf betont, dass es Hector Guimard gelang Hortas„Peitschenschlag“ weiterzuentwickeln und eine eigene, unverwecheslbare Ornamentik zu schaffen, die er ab 1903 unter anderem in einer Postkartenserie unter dem Schlagwort „Style Guimard“ vermaktete.

Anna Grosskopf unterstreicht, dass Hector Guimard nicht nur durch seine Wohnbauten bekannt wurde, sondern zudem durch die Gestaltung der Pariser Métro-Eingänge mit Gittern und Überdachungen aus Gusseisen, die heute noch — neben der Haussmann-Architektur — zum Charme der französischen Hauptstadt beitragen.

Dies sind nur einige wenige Angaben aus dem reich illustrierten Katalog —  eine Augenweide! — zur Ausstellung im Bröhan-Museum, Landesmuseum für Jugendstil, Art Deco und Funktionalismus in Berlin, die seit dem 7. Dezember 2023 und noch bis am 14. April 2024 dauert.

Herausgegeben von Anna Grosskopf und Tobias Hoffmann: Art Nouveau um 1900. Jugendstil aus Frankreich und Belgien. Hirmer Verlag, Dezember 2023, 192 Seiten mit 150 Abbildungen in Farbe, 24 x 28 cm, gebunden. Mit Beiträgen von Anna Grosskopf und Tobias Hoffmann. ISBN: 978-3-7774-4336-2. Alle Cookies akzeptieren, um direkt zur Amazon-Seite des Buches zu gelangen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Siehe zudem das Buch von Birgit Ströbel: Jugendstil in Berlin. Deutscher Kunstverlag November 2023, 448 Seiten. [Rezension am 4.1.2023 hinzugefügt]. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Siehe auch den französischen Artikel zu Art Nouveau et Industrie d’Art.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik / Austellungskritik von Art Nouveau um 1900. Jugendstil aus Frankreich und Belgien sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik / Ausstellungskritik vom 2. Januar 2024 um 11:04 deutscher Zeit.