Jugendstil in Berlin

Jan 04, 2024 at 18:53 703

Birigt Ströbel hat mit Jugendstil in Berlin. Künstler — Räume — Objekte einen umfassenden Führer für die Haupstadt geschrieben, in dem sie insbesondere auf die Künstler, Architekten und Designer Bruno Möhring, Alfred Grenander, Otto Eckmann, Henry van de Velde, August Endell, Theodor Schumz-Baudiss und Peter Behrens eingeht.

In ihrem „Resümee“ am Buchende bedauert die Autorin, dass sich bezüglich der Künstlerinnen eine schmerzhafte Lücke auftut, da sie wie so oft in der Forschung vernachlässigt oder eher am Rande behandelt werden. Sie sei zum Beispiel Marie Kirschner und Fia Wille begegnet, doch wir wüssten nicht viel über ihre künstlerische Arbeit und ihr Leben. Da bleibt noch viel zu erforschen, wie Birigt Ströbel selbst anmerkt.

Birgit Ströbel: Jugendstil in Berlin. Künstler — Räume — Objekte. Deutscher Kunstverlag November 2023, 448 Seiten. Alle Cookies akzeptieren, um direkt zur Amazon-Seite des Buches zu gelangen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Birgit Ströbel unterstreicht gleich zu Beginn, dass es heute kaum noch möglich ist, sich zu vergegenwärtigen, welches Erstaunen, welche Provokation, welche Verzauberung oder auch Verwirrung Häuser, Wohnungen oder auch Möbel im Jugendstil um die Jahrhundertwende auslösten.

So gut wie alles war anders: Formen, Proportionen und Materialien, deren Behandlung und Kombination, Farben, Muster und Ornamente sowie der Anspruch, ein Gesamtkunstwerk zu erschaffen, sei es ein Haus, eine Etagenwohnung, ein Wohnzimmer, ein Büro oder eine Ladeneinrichtung.

Es gab festgefügte Vorstellungen darüber, wie man ein Wohnzimmer einrichtet und was dort zum Schmuck an der Wand hängen sollte, wie ein repräsentatives Büro oder Ladengeschäft ausgestattet sein oder wie die Dame des Hauses gekleidet sein sollte, die Gäste empfängt. Birgit Ströbel betont, dass der Jugendstil die Zeitgenossen zu allen diesen Fragen der Gestaltung mit neuen Vorschlägen und Lösungen konfrontierte, die von den Künstlern zudem nicht selten mit pädagogischem oder sogar missionarischem Impetus vorgebracht wurden, was für manche ein Genuss und eine Freude, für viele eine Provokation darstellte. So wurden zum Beispiel die frühen Werke von Henry van de Velde als Skandal betrachtet und von Zeitungskritikern vernichtend besprochen.

Der Zweite Weltkrieg sowie der wenig zimperliche Umgang mit dem übriggebliebenen Jugendstil-Erbe in der Nachkriegszeit führten dazu, dass viele Jugendstilbauten und Jugendstileinreichtungen in Deutschland verschwanden. Laut Birgit Ströbel begann sich Ansehen des Jugendstils erst in den späten 1960er und in den 1970er Jahren zu verbessern.

Die Autorin verweist darauf, dass der deutsche Umgang mit dem Jugendstil nicht einzigartig war. In Brüssel wurde noch 1967 die 1899 eröffnete Maison du Peuple der Ikone des belgischen Jugendstils, Victor Horta (1861–1947), abgerissen, um einem Hochhaus Platz zu machen.

Auf Grund der vielen Verluste von Werken des Jugendstils aller Art kommen den um 1900 in Mode gekommenen illustrierten Kunst- und Kulturzeitschriften wie Die Kunst, Kunst und Dekoration, Innendekoration: mein Heim, mein Stolz, Deutsche Kunst und Dekoration, Jugend, Pan, Ver Sacrum und anderen eine bedeutende Rolle als Quelle zu.

Definition des Jugendstils

Birgit Ströbel definiert den Jugenstil mit folgenden Merkmalen: Internationalität, Abwendung vom und die Abgrenzung zum Historismus, Zeitraum zwischen etwa 1890 bis 1914, Suche nach neuen Formen, Entwicklung der Form aus dem Material und der Funktion, ‚Erfindung‘ der Materialgerechtigkeit, Bedeutung der Fläche, Betonung der Linie, Linie als Ausdruck von Dynamik, vegetative (vegetabile) Ornamentik (ich würde noch hinzufügen: organische Formen), Durchdringung des ganzen Lebens mit Kunst, Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten, Einfluss der Arts-and-Crafts-Bewegung aus England auf dem Kontinent, Idee des Gesamtkunstwerks, Besinnung auf die europäische Handwerkstradition, Einfluss der japanischen Kunst (Japonismus), Aufwertung der Farbe, nicht nur für Innenräume, sondern auch als Element der Architektur, neue Rolle und wachsende Bedeutung von Eisen und Glas als Konstruktionselemente, zunehmende Verwendung von Fliesen und Keramik als Verkleidung und Dekor, geometrische Ornamentik, besondere Rolle und Bedeutung der Buchgestaltung, neue illustrierte Zeitschriften mit je eigenem Stil, darunter auch reine Kunstzeitschriften, neuer Typus des Künstlers, der von der Malerei über das Kunstgewerbe zur Architektur kommt (teilweise autodidaktisch), pädagogischer oder sogar missionarischer Impetus mancher Künstler, der sich in zahlreichen Publikationen manifestierte.

Ein Beispiel für den Jugendstil ist die Abbildung 3 im Buch, die ein 1895/96 entworfenes Möbelensemble von Henry van de Velde für Haus Bloemenwerf in Uccle bei Brüssel aus dem Jahr 1898 zeigt, das sich heute im Bröhan-Museum in Berlin befindet (siehe zu diesem Museum und seiner Sammlung den Artikel Art Nouveau um 1900).

Die Autorin zitiert dazu Ursula Muscheler: Möbel, Kunst und feine Nerven. Henry van de Velde und der Kultus der Schönheit 1895–1914, Berlin, 2012, S. 16–17: So entstand Haus Bloemenwerf: zweigeschossig, behütet von einem Walmdach mit drei ungleichen Giebeln zur Straße, die Fassaden ganz ohne den zeitüblichen Dekor von Gesimsen, Girlanden und Putten. Mittelpunkt des polygonal geschnittenen Hauses ist eine zweigeschossige Halle, von der eine Treppe zur Galerie hinaufführt. (…) An den Wänden hängt neueste Avantgardekunst. Das Esszimmer ist hell und freundlich. Der Tisch steht (…) in einer Ecke des Raumes, seine Mitte ist zum Abstellen heißer Schüsseln mitetwas erhöhten Keramikplatten belegt. (…) Nur wenige Räume sind abgeschlossen, die meisten (…) öffnen sich zur Halle. (…) Die Brüstungen der Galerie bestehen aus halbhohen, beidseitig verglasten Vitrinenschränken. Sie sind wie die Möbel aus hellem, poliertem Eschenholz, das zusammen mit der Dahlia-Tapete und den Stoffen in lebhaften Farben der Atmosphäre des Hauses eine heitere Note verleihen. Die Möbel verzichten wie die Fassade auf ornamentalen Schmuck. Die Stühle etwa sind einfache Skelette ausschmalen Hölzern mit breit gestellten Beinen und einer Sitzfläche aus Korbgeflecht. Sie wirken leicht, ungezwungen, erfrischend handmade (…).

Laut Birgit Ströbel kamen die wichtigsten inspirierenden Impulse für den Jugendstil in Deutschland aus der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung von William Morris und seinen Mitstreitern, aus der Schule von Glasgow, die über Wien Deutschland erreichte, sowie aus der Arbeit von Henry van de Velde.

Der Jugendstil in Berlin

Noch 1980 gab es grosse Lücken in der Bestandsaufnahme und Erforschung des Jugendstils in Berlin. Die Stadt wurde viele Jahre lang nicht als Zentrum des Jugendstils wahrgenommen. Das hat sich seither allerdings gewandelt, so die Autorin.

Im ersten Teil ihres Buches stellt Birgit Ströbel die eingangs erwähnten sieben Künstler vor, die laut ihr für den Jugendstil in Berlin einflussreich oder prägend waren. Unter ihnen ist einzig August Endell ein gebürtiger Berliner.

Berlin verdankt Bruno Möhring die einzige noch heute existierende Hochbahnstation im Jugendstil (Bülowstrasse, 1900/1901). Birgit Ströbel hebt hervor, dass Bruno Möhring nicht nur ein erfolgreicher Jugendstilarchitekt, sondern zudem Städteplaner, Brückenbauer, Designer von Möbeln, Schmuck, Ladengeschäften, Restaurants und Ausstellungsräumen sowie Autor und Herausgeber von Fachzeitschriften war. Heute ist er weitgehend vergessen, obwohl er ein Weggereiter des Neuen Bauens war, das sich in den 1920er Jahren durchsetzte und den Jugendstil endgültig verdrängte, in Berlin in Vergessenheit geraten liess.

Im zweiten Teil von Jugendstil in Berlin. Künstler — Räume — Objekte stellt Birgit Ströbel Jugendstilwerke in Berlin vor, denen die Berliner begegnen konnten (und zum Teil noch können). Die Anfänge gehen auf das Jahr 1895 zurück, mit einer intensiven Phase von 1897/1898 bis 1906/1907 und einem sich zunehmend beschleunigenden Niedergang bis 1914. Nicht nur in der deutschen Hauptstadt, auch in anderen deutschen und europäischen Städten, in denen der Jugendstil eine Rolle spielte, war spätestens mit Beginn des Ersten Weltkrieges seine Zeit endgültig vorbei, so unsere Autorin.

Birgit Ströbel stellt im zweiten Teil ihres Buches Werke und Objekte des Jugenstils in öffentlichen Räumen, in öffentlichen Gebäuden, an Orten von Handel und Kommerz, in den Sphären von Kunst- und Designausstellungen sowie in privaten Räumen und in Büroräumen vor. Sie betont dabei, dass sich überall Jugendstil in unterschiedlicher Gestaltung fand, doch einen Berliner Jugendstil eigener Prägung habe es nicht gegeben.

Dies und noch viel mehr gibt es zu entdecken in Birgit Ströbel: Jugendstil in Berlin. Künstler — Räume — Objekte. Deutscher Kunstverlag November 2023, 448 Seiten. Alle Cookies akzeptieren, um direkt zur Amazon-Seite des Buches zu gelangen (wir erhalten eine Kommission): Amazon.de.

Siehe auch den Artikel zum Jugendstil in Frankreich und Belgien sowie den französischen Artikel zu Art Nouveau et Industrie d’Art.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Jugendstil in Berlin. Künstler — Räume — Objekte sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 4. Januar 2024 um 18:53 deutscher Zeit.