Augusto Giacometti: Catalogue raisonné

Dez 05, 2023 at 12:49 345

Augusto Giacometti (1877-1947) steht zwar im Schatten des berühmten Sohnes Alberto (1901-1966) seines Cousins Giovanni (1868-1933), dennoch gehört er zu den herausragenden Schweizer Künstlern, denn er gilt als einer der Wegbereiter der Abstraktion in seinem Land.

Im November 2023 wurde der Œuvre-Katalog Schweizer Künstler und Künstlerinnen 31 unter dem Titel Augusto Giacometti. Catalogue raisonné. Gemälde, Wandgemälde, Mosaike und Glasgemälde (Amazon.de) im Verlag Scheidegger & Spiess publiziert. Forscher des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft SIK-ISEA kommentieren auf rund 900 Seiten die 556 Katalogeinträge. In einem wissenschaftlichen Apparat werden Augusto Giacomettis Werke technisch und rezeptionsgeschichtlich detailliert dokumentiert. In Essays werden seine Stellung im kulturgeschichtlichen Kontext, Fragen zu seiner Auftragskunst und zu seiner Rolle als Kulturpolitiker beleuchtet. Weitere Beiträge legen den Akzent auf die farbtheoretischen Überlegungen des Künstlers im Kontext zeitgenössischer Lehrauffassungen und Praxis, auf konservatorische Fragestellungen sowie auf die historischen Versuche der künstlerischen Einordnung Augusto Giacomettis.

Beat Stutzer befasst sich mit dem Thema Transzendenz und Sinnlichkeit bei Augusto Giacometti, das heisst dem Einfluss des Pariser Art nouveau und des Florentiner Symbolismus auf sein Frühwerk. In einem weiteren Artikel untersucht der Autor zudem das Wirken von Augusto Giacometti zwischen Abstraktion und Ungegenständlichkeit. Denise Frei ordnet seine Wandbilder in das Zeitgeschehen ein und untersucht zudem sein Netzwerk. Michael Egli widmet sich den Glasgemälden, die er als Zeitreisen zwischen Mittelalter und Moderne betitelt. Silja Meyer wiederum untersucht Augusto Giacomettis Umgang mit der Farbe, deren Brillanz auch auf Methodik beruhe. Farbpaletten, Farbtabellen, der Farbkreis, Abstraktionen und Transpositionen sind ihr Thema. Fünf Autoren wiederum, unter ihnen auch Silja Meyer, stellen zudem kunsttechnologische Beobachtungen zu den Gemälden von Augusto Giacometti an. Beat Stutzer steuert eine kurze Biografie des Künstlers bei.

Michael Egli unterstreicht in einer Vorbemerkung zum Katalogteil, dass der vorliegende Catalogue raisonné die Gattungen der Gemälde, Wandgemälde, Mosaike und Glasgemälde umfasst. Die Arbeiten auf Papier wurden nicht in den Katalog aufgenommen. Einzig einzelne Pastellzeichnungen und Aquarelle werden als Illustrationen zur Werkgenese in den Kommentaren erwähnt und abgebildet.

Tabea Schindler, die Leiterin der Abteilung Kunstgeschichte des SIK-ISEA und Co-Projektleiterin des Augusto Giacometti. Catalogue raisonné unterstreicht in ihrem Vorwort, dass der Künstler in seiner damaligen Funktion als Präsident der Eidgenössischen Kunstkommission (EKK) massgeblich an den Diskussionen beteiligt war, die den Weg ebneten für die am 14. Juni 1951 erfolgte Gründung des Vereins «Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft» durch dessen Initiator, den Kunsthistoriker Marcel Fischer, sowie die Kunstgeschichtsprofessoren Linus Birchler und Gotthard Jedlicka. Zu viert hatten sie am 10. Dezember 1946 einen entsprechenden Projektentwurf unterzeichnet mit dem Ziel, nach den verheerenden Kriegsjahren den – zumindest dokumentarischen – Erhalt der Kunstwerke in der Schweiz sicherzustellen. Dies gehört neben der später hinzugekommenen kunsthistorischen und kunsttechnologischen Forschung nach wie vor zu den Kernaufgaben des Instituts, unterstreicht Tabea Schindler.

Die Quellenlage

Tabea Schindler steuert Informationen zur Quellenlage bei, die sie als reich beschreibt, was Neudatierungen einzelner Gemälde ermöglicht habe. 1966 war Augusto Giacomettis schriftlicher Teilnachnass aus dem Nachlass seines langjährigen Weggefährten, des Kunsthistorikers Erwin Poeschel, ins Schweizerische Kunstarchiv von SIK-ISEA gelangt. Er enthält Giacomettis Tage- und Skizzenbücher, Notizhefte, handschriftliche Manuskripte und lose Skizzen, Presseartikel, Rechnungen sowie Fotografien von Werken und Mitmenschen. Eine der wichtigsten Grundlagen vor allem in der Anfangsphase des Projekts war die handschriftliche Werkliste, die Giacometti um 1926 (grösstenteils retrospektiv) im Hinblick auf das Werkverzeichnis erstellt hatte, das Poeschel 1928 publizierte. Dieses trug neben den 1936, 1943 und 1948 durch Arnoldo M. Zendralli veröffentlichten Werkverzeichnissen nicht nur wesentlich zur Bekanntmachung und Rezeption von Giacomettis Œuvre bei, sondern war auch für die Arbeit am vorliegenden Catalogue raisonné von essenzieller Bedeutung. Die Nachfahren von Erwin Poeschel ermöglichten den Verfasssern des vorliegenden Werkes Zugang zu nicht publizierten Unterlagen. Weitere zentrale Quellen befinden sich laut Tabea Schindler in den Archiven der Familie Giacometti. Marco Giacometti, Nachfahre der Künstlerdynastie und Präsident der Fondazione Centro Giacometti in Stampa, liess bislang nicht publizierte Informationen in den vorliegenden Werkkatalog einfliessen. Marco Giaometti liess parallel zur Erarbeitung des Catalogue raisonné Augusto Giacomettis Biografie anhand von Archivmaterialien aufarbeiten. Siehe die Biografie von Augusto Giacometti, 2022 in zwei Bänden ebenfalls im Verlag Scheidegger & Spiess erschienen. Als weitere Quelle erwähnt Tabea Schindler die Arbeit von Caroline Kesser, die 2020 die zwischen 1932 und 1937 verfassten Tagebücher von Augusto Giacometti publiziert hat. Hinzu kommt die Zusammenarbeit mit Privatsammlern — 65% der gemalten Werke Augusto Giacomettis befinden sich in Privatbesitz — sowie Galerien und Auktionshäusern.

Einige Angaben zur frühen Biografie von Augusto Giacometti

Augusto Giacometti wächst wie sein Cousin Giovanni in der Ortschaft Stampa im Bergell auf. Doch obwohl die Giacomettis eine Künstlerdynastie bildeten, war nicht jeder Giacometti ein Künstler. Beat Stutzer schreibt in seiner Biografie im Catalogue raisonné, dass Antonio Augusto Giacometti am 16. August 1877 in Stampa im Kanton Graubünden geboren wird und im Haus «la Ruina» aufwächst. Seine Eltern sind der Bergbauer Giacomo Giacometti (1853–1918), genannt «Giacumin da la Gassa», und Marta, geborene Stampa (1853–1928), die seit 1876 verheiratet sind. Augustos Grossvater Antonio Giacometti (1814–1883) ist Bauer; sein Grossvater mütterlicherseits, Agostino Stampa (1802–1877), betreibt im preussischen Thorn (heute Polen) als Auswanderer eine Konditorei und kehrt 1861 mit seiner Frau Emilia, geborene Meng (1827–1867), und den Kindern nach Stampa zurück.

Beat Stutzer unterstreicht, dass Augusto ab 1884 die Primarschule in Stampa besucht, an der sein Onkel Zaccaria Giacometti (1856–1897) unterrichtet und als erster sein Zeichentalent fördert.

Am 12. Mai 1890 holt Maria Lucrezia Torriani-Stampa (1850–1927), Marietta genannt, ihr Patenkind Augusto in Stampa ab und reist mit ihm nach Zürich, wo Augusto die folgenden zwei Jahre bei ihr wohnt, im Linth-Escher-Schulhaus die Sekundarschule besucht und als nicht deutschsprachiger Bergeller wöchentlich zusätzlich zwei Stunden Deutschunterricht nehmen muss.

1891 äussert Augusto seinen Berufswunsch: Zeichenlehrer oder Fotograf. Im September 1892 besteht er die Aufnahmeprüfung für die Kantonsschule in Chur. Als Freifach wählt er Zeichnen; sein an der Akademie der bildenden Künste in München ausgebildeter Lehrer Albert Birchmeier (1862–1894) und dessen Nachfolger Hans Jenny (1866–1944), der spätere Konservator des Bündner Kunstmuseums, fördern ihn.

1894 wird Augusto über ein Zeitungsinserat auf die Kunstgewerbeschule Zürich aufmerksam. Im März verlässt er die Kantonsschule und begibt sich Ende April nach Zürich, wo er wieder bei seiner Tante Marietta wohnt. Er besteht die Aufnahmeprüfung für die Kunstgewerbeschule.

Augusto Giacomettis Lehrer an der Kunstgewerbeschule Zürich sind Albert Freytag (1851–1927) im Figurenzeichnen, Gottlieb Kägi (1856–1930) im Ornament- und Blumenzeichnen, Ulrich Kollbrunner (1852–1932) in darstellender Geometrie, Schuldirektor Albert Müller (1846–1912) in Architektur, gewerblichem Zeichnen und Stillehre, Joseph Regl (1846–1911) im Modellieren, Ulrich Schoop (1830–1911) in perspektivischem Freihandzeichnen und Alexander Sokolowsky (1866–1949) in Anatomie und Skizzieren.

Den Sommer 1894 verbringt Augusto in Stampa, wo er Zeichnungen und Aquarelle nach der Natur anfertigt; im Palazzo Vertemate Franchi im italienischen Piuro fertigt er Kopien der dortigen Ornamente an.

Ende März 1895 stellt die Kunstgewerbeschule Augusto für das Wintersemester ein sehr gutes Zeugnis aus. In den Ferien nimmt er erste Auftragsarbeiten entgegen: Kopien für Seidenapplikationen und Entwürfe für ornamentale Muster. Von den Eltern bescheiden unterstützt, bestreitet er seinen Lebensunterhalt mit Stipendien des Bundes, des Kantons Graubünden, des Kantons und der Stadt Zürich sowie von Privatpersonen.

1896 ist Augusto von der schweizerischen Landesausstellung in Genf begeistert. Dort sind von ihm Arbeiten innerhalb der Präsentation der Zürcher Kunstgewerbeschule zu sehen. Im Sommer vertritt er den Leiter der Schulbibliothek. Dabei stösst er auf das soeben in Paris veröffentlichte Buch La plante et ses applications ornementales von Eugène Grasset (1845–1917). Das Werk fasziniert ihn derart, dass er seine Studien bei Grasset in Paris fortsetzen will.

Dies sind nur einige wenige Angaben zur frühen Biografie von Augusto Giacometti aus dem Katalogbeitrag von Beat Stutzer. Der Künstler stirbt am 9. Juni 1947. Zwei Tage später wird er auf dem Friedhof von San Giorgio in Borgonovo beigesetzt. Auf dem in die Friedhofsmauer eingelassenen Epitaph ist auf italienisch eingemeisselt: Hier ruht der Meister der Farben («QUI RIPOSA / IL MAESTRO / DEI COLORI»).

Michael Egli, Denise Frey, Beat Stutzer: Augusto Giacometti. Catalogue raisonné. Gemälde, Wandgemälde, Mosaike und Glasgemälde (Œuvre-Kataloge Schweizer Künstler und Künstlerinnen 31). Mit Beiträgen von Karoline Beltinger, Francesco Caruso, Silja Meyer, Alessandra Vichi und Stéphanie Vuillemenot. Hrsg. vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft, Zürich. Zwei Bände im Schuber. Scheidegger & Spiess, 2023, ingesamt 908 Seiten mit 911 farbigen und 133 s/w-Abbildungen, 24 x 29.5 cm. Cookies akzeptieren, damit Sie direkt zum Catalogue raisonné in zwei Bänden gelangen; wir erhalten eine Kommission. Bestellen bei Amazon.de.

Top Angebote und Aktionen bei Amazon Deutschland

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 5. Dezember 2023 um 12:49 deutscher Zeit.