Augusto Giacometti: Die Biografie

Jul 12, 2022 at 16:43 904

Augusto Giacometti (1877-1947) steht wie sein wenige Schritte neben seinem Elternhaus in Stampa (Bergell) aufgewachsener Cousin Giovanni Giacometti heute im Schatten von dessen weltberühmten Sohn Alberto. Doch zu seiner Zeit galt er als einer der führenden Schweizer Maler, der den Impressionismus überwand, ohne ihm verfallen zu sein, als Pionier der Abstraktion und der modernen Glas- und Wandmalerei. Zu seinen Freunden zählten der deutsche Maler August Babberger und seine Schweizer Kollegen Rudolf Dübendorfer – mit dem er sich in Paris aus finanziellen Gründen einen Monat lang ein Bett teilte – und Cuno Amiet. Zu den bedeutenden Sammlern seiner Werke gehörten unter anderen der Zürcher Kaufmann und Mäzen Richard Kisling, einer seiner ersten, mit dem der Künstler ab 1906 bekannt war, sowie die Familien Ziegler, Züblin, Staub und Wolfer-Sulzer. Zudem war Augusto Giacometti von 1933 bis 1938 Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission, in der er sich als Juror und Mitorganisator für Ausstellungen von Schweizer Künstlern im In- und Ausland engagierte.

Mit Augusto Giacometti. In einem förmlichen Farbentaumel. Die Biografie (Amazon.de) legt Marco Giacometti in zwei Bänden auf 904 reich illustrierten Seiten das Leben und Werk des Künstlers vor. Die jeweiligen Kapitel werden durch kurze Zusammenfassungen eingeleitet.

Im Vorwort schreibt der Biograf, dass seine Mutter Marta und sein Vater Fernando mit dem Bergeller Maler Augusto Giacometti verwandt sind. Mütterlicherseits zählte seine Urgrossmutter Alma zu den Cousinen Augustos. Sein Grossvater väterlicherseits, Antonio, war sowohl über seine Mutter Anna als auch über seinen Vater Antonio Augustos Cousin. Im Jahr 1947 erbte Marcos Grossvater Augustos Elternhaus in Stampa und mit ihm die vom Maler hinterlassene persönliche Korrespondenz mit seinen
Eltern und Verwandten (gut 500 Briefe und Postkarten).

Von 2015 bis 2022 arbeitete Marco Giacometti an dieser umfassenden Biografie, in der er darauf hinweist, dass die von Augusto verfassten zwei autobiografischen Bücher Blätter der Erinnerung eine Auswahl an teils willkürlich gewählten, teils falsch datierten Ereignissen enthalten, die ohne Quellen auskommen und denen eine gewisse Idealisierung nicht abgesprochen werden könne; der Künstler hatte sie in einem fortgeschrittenen Alter verfasst.

Marco Giacometti betont die Bedeutung des Vortrags Die Farbe und ich (abgedruckt in Augusto Giacometti. Wege zur Abstraktion; Amazon.de), den Augusto Giacometti 1933 hielt und in dem er technische Aspekte seiner künstlerischen Arbeit erläuterte. Dagegen behielt er seine Eindrücke und Emotionen für sich – wie er seinem Tagebuch (Amazon.de) anvertraute – und zog damit die Kritik des damaligen NZZ-Redakteurs Waldemar Jollos auf sich. In Augusto Giacometti. In einem förmlichen Farbentaumel. Die Biografie (Amazon.de) treten nun erstmals alle Facetten des Künstlers zutage, so Marco Giacometti.

Der Biograf beschreibt den Bergeller als selbstbewusst, strebsam, fleissig, zielstrebig, vernetzt und einfühlsam, der sich intensiv mit seiner Umwelt auseinandersetzte, Malerei mit Neugier und Disziplin studierte, der Studiengelder generierte und Kunden akquirierte. Nach Reisen nach Florenz, durch Europa und nach Nordafrika habe er sich 1909 mit 32 Jahren vorgenommen, die Schweizer Malerei nach Ferdinand Hodler, Cuno Amiet und Giovanni Giacometti zu erneuern, was bei ihm über eine Befreiung von der Form erfolgte. 1909 gelangte er mit einem ersten ungegenständlichen Frauenbildnis zu einer eigenen, farbkodierten abstrakten Malerei.

In seinem Leben erkrankte Augusto Giacometti an Tuberkulose – und überwand die Krankheit. Er erlebte die Trennung seiner Eltern schmerzhaft mit, verlor in der Folge seinen Bruder früh. Er liebte und verkehrte mit Prostituierten. Er war eine Persönlichkeit, die Schriftsteller und Journalisten für sich gewann und in Zürich zu einem anerkannten, gefragten Kunstschaffenden, Juror und Kunstpolitiker aufstieg, der zur Krönung ins Amt des Präsidenten der Eidgenössischen Kunstkommission aufstieg.

Laut dem Biografen ging Augusto Giacometti als Künstler stets seinen eigenen Weg. Er beobachtete zwar die Futuristen und die Kubisten, sympathisierte mit den Dadaisten sowie der Schweizer Avantgarde um 1920, doch schloss er sich nie konsequent einer Gruppe an.

Er studierte die Naturgesetze zu Farben und las Werke von Kant, Nietzsche, Schopenhauer, Proust und Ruskin. Früh fand er zu abstrakten Farbkombinationen und zu grossformatigen symbolistischen Werken. Marco Giacometti entnimmt dem Tagebuch des Künstlers aus dem Jahr 1932, dass dieser der Auffasslung war, das sich Natur und Phantasie in ihm ergänzen wollten. In seinen Werken lösten sich die Formen zunehmend auf  – hin zu einer harmonischen, damals mutigen Anordnung reiner Farben. Der Kunsthistoriker Erwin Poeschel, der durch zwei Augusto Giacometti-Monografien und weitere Schriften das Ansehen und den Erfolg des Bergellers beförderte, schrieb 1926 zu dessen Kunst, sie verstehe es, durch die Macht der Farbe Unsichtbares sichtbar zu machen.

Im Anhang von Band 2 findet sich neben Quellenangaben, einem Briefverzeichnis und einer Kurzbiografie von Augusto Giacometti vor allem ein sehr hilfreiches Personenregister, in denen viele (vor allem kaum bekannte) Menschen dem Leser kurz vorgestellt werden.

Dies und noch viel mehr ist dieser monumentalen Biografie zu entnehmen, die sich nicht als Schlusspunkt, sondern im Gegenteil als Anreiz zu weiteren Recherchen und Dokumentationen sieht. Marco Giacometti bezeichnet als nächsten markanten Meilenstein der Forschung den Catalogue raisonné zu Alberto Giacometti, den das Schweizerische Institut für Kunstgeschichte zur Zeit erarbeitet.

Marco Giacometti: Augusto Giacometti. In einem förmlichen Farbentaumel. Die Biografie. 2 Bände, gebunden in Schuber. Herausgegeben von der Fondazione Centro Giacometti, Stampa. Scheidegger & Spiess, Juni 2022, insgesamt 904 Seiten mit 250 farbigen und 235 schwarz-weiss Abbildungen, ISBN 978-3-03942-077-3. Bestellen bei Amazon.de.

Der Buchumschlag von Band 1 zeigt ein Selbstbildnis des Künstlers aus dem Jahr 1910, Öl auf Leinwand, 35,5×26 cm. Das Cover von Band 2 zeigt das Werk Bildnis, 1929, Öl auf Leinwand, 46,5×37,5 cm; das Gemälde gehörte anfänglich Max Paul Höhn. Die Dame in Blau gehörte wohl zu dessen Umfeld, so Marco Giacometti.

Beat Stutzer schreibt in seinem Vorwort zur Neuauflage des Buches Augusto Giacometti. Wege zur Abstraktion (Amazon.de), dass Augusto Giacometti in einzelnen Werken auf eine mit rein malerischen Mitteln erzielte Kunst zielte, bei der figurative Elemente entbehrlich geworden sind. Im Aufspüren von Gesetzmässigkeiten in der Natur nahm er sich Ende des 19. Jahrhunderts heraus, «dem lieben Gott Konkurrenz zu machen», indem er die reine Farbe und ihre Kombinationen zum Bild und zu dessen alleinigem Inhalt machte. Es war dies der Auftakt zu einem Schaffen, das sich fortan zwischen abstrahierender Gegenständlichkeit und schierer Ungegenständlichkeit hin- und herbewegte.

Herausgegeben von Beat Stutzer: Augusto Giacometti. Wege zur Abstraktion. Mit Beiträgen von Beat Stutzer und Raimund Meyer und dem Vortrag «Die Farbe und ich» von Augusto Giacometti. Scheidegger & Spiess, August 2021, 199 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Die Erstausgabe dieses Buches erschien 2003 anlässlich der Ausstellung Augusto Giacometti – im Dialog mit Alice Bailly, Giovanni Giacometti, Ferdinand Hodler, Paul Klee, Otto Meyer-Amden, Louis Moilliet und Sophie Taeuber-Arp im Bündner Kunstmuseum Chur vom 21. Juni bis am 14. September 2003.

Siehe auch Caroline Kessler: Immer nur das Paradies: Augusto Giacometti – Die Tagebücher 1932-1937. Scheidegger & Spiess, 2020, 280 Seiten, gebunden. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

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Buchkritik / Rezension vom 12. Juli 2022 um 16:43 Schweizer Zeit.