Bernardo Bellotto zeichnet.

Nov 21, 2022 at 14:45 748

Zum diesjährigen 300. Geburtstag von Bernardo Bellotto (1722-1780) zeigt das Hessische Landesmuseum Darmstadt (HLMD) vom 21. Oktober 2022 bis am 15. Januar 2023 die Ausstellung Remember Venice! Bernardo Bellotto zeichnet (Amazon.de).

Im Laufe seines Lebens dürfte Bernardo Bellotto einige Tausend Zeichnungen geschaffen haben, wovon sich allerdings nur rund 140 Arbeiten erhalten haben. 61 dieser Arbeiten auf Papier – 56 gesicherte und 5 ungesicherte Arbeiten von Bellotto, überwiegend mit Feder und Tinte ausgeführt – befinden sich heute in der Graphischen Sammlung des Hessischen Landesmuseums Darmstadt. Die Darmstädter Sammlung besitzt damit neben dem Nationalmuseum in Warschau die grösste Bellotto-Sammlung weltweit.

Das Konvolut der Bellotto-Zeichnungen befindet sich seit 1829 im Bestand des HLMD. Es kam gemeinsam mit vier Zeichnungen von Bellottos Onkel und Lehrmeister Giovanni Antonio Canal (1697-1768) in den Museumsbestand. Bellotto trat um 1735 in Venedig in die Werkstatt von Canal, der wie sein Neffe „Canaletto“ genannt wurde. In Venedig entstanden Werke, die als Statussymbole inbesondere bei englischen Adeligen und Patriziern, die auf der Grand Tour zwangsläufig in der Serenissima halt machten, hoch im Kurs.

Die Leiterin der Graphischen Sammlung und Herausgeberin des Katalogs, Mechthild Haas, erläutert in ihrem Essay zum „Zeichnungsschatz“, dass 1742 der Österreichische Erbfolgekrieg italienischen Boden erreichte. Damit endeten die goldenen Zeiten Venedigs endgültig. Der Tourismus ging zurück. Die Vedutenmalerei konnte ihre Künstler nicht mehr ernähren, da es keine Aufträge mehr gab. Antonio Canal gab seine Werkstatt auf und ging 1746 nach England, wo er für zehn Jahre blieb und reüssieren sollte. Im folgenden Jahr entschloss sich auch der 25-jährige Bernardo Bellotto, Venedig den Rücken zu kehren. Er machte sich auf den Weg nach Dresden an den kurfürstlichen Hof, wo ihn ein lukratives Angebot erwartete. Zusammen mit seiner Frau Maria Elisabetta, dem fünfjährigen Sohn Lorenzo und dem Diener Checco verliess er im Juli 1747 seine Heimatstadt. Die Zeichnungen, die er im Gepäck mit sich führte, befanden sich noch an seinem Lebensende in seinem künstlerischen Nachlass, ergänzt um einige post-italienische Arbeiten, die in Dresden und Warschau entstanden waren.

Bernardo Bellotto verstarb am 17. Oktober 1780 überraschend an einem Schlaganfall mit erst 59 Jahren. Seine Frau vestarb fünf Jahre säter, seine älteste Tochter Maria Josepha Friederica im Jahr 1789; so blieb Theresia Francisca, das jüngste der insgesamt neun Kinder von Elisabetta und Bernardo, die einzige Hinterbliebene. Sie heiratete 1792 den Witwer ihrer ältesten Schwester, Hermann Karl de Perthées, einen Kartografen in Diensten des Polnischen Königs Stanisław August II.

Mechthild Haas schreibt zudem, dass 1798 beide samt Bernardo Bellottos künstlerischem Nachlass nach Vilnius in Litauen reisten, wo de Perthées eine Stelle als Dozent für Kartografie bei der russischen Armee antrat. In Vilnius erwarb Anfang des 19. Jahrhunderts der aus Darmstadt stammende Kaiserlich Russische Staatsrat Ludwig Heinrich von Bojanus rund 80 Zeichnungen aus Bellottos Nachlass. Von Bojanus reiste 1824 aus gesundheitlichen Gründen nach Darmstadt zur Familie seiner Schwester, wo er drei Jahre später verstarb. Zuvor hatte er verfügt, dass sein Vermögen zum Unterhalt seiner Pflegetochter Amalie Rüdy dienen sollte. 1829 wurden die Blätter von Bernardo Bellotto in Darmstadt versteigert. Das Grossherzogliche Museum in Darmstadt erwarb 76 Zeichnungen von Canaletto für die moderate Summe von 140 Gulden und 40 Kreuzer. Die Werke kamen zuerst in die Hofbibliothek. Später wurden insgesamt 15 Papierarbeiten verkauft, was uns zu den eingangs erwähnten 61 Bellottos führt.

Alle Blätter im HLMD stammen also aus dem Nachlass des Künstlers. Sie wurden von Grossherzog Ludewig I. für die Sammlung des Hessischen Landesmuseums angekauft. Der gesamte Bestand wurde bis heute erst einmal – im Jahr 1981 – in Darmstadt ausgestellt. Weitere Leihgeber der aktuellen Schau sind die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit der Gemäldegalerie Alte Meister, der Kunstpalast Düsseldorf sowie die Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt mit ihren Historischen Sammlungen.

Mit wenigen Ausnahmen entstanden die Zeichnungen im Bestand des HLMD in Bellottos frühen, in Italien verbrachten Jahren von 1735 bis 1746. Sie zeigen Stadtansichten Venedigs und Veduten einiger Städte Ober- und Mittelitaliens wie Padua, Verona und Rom. Sie waren für den Künstler ein Andenken an die Orte seiner italienischen Heimat, die er 1747 in Richtung Dresden verliess, sowie zugleich Arbeits- und Anschauungsmaterial für seinen Unterricht an der Dresdener Akademie – daher im Titel von Ausstellung und Katalog in Darmstadt: Remember Venedig!

Der Begleitband zur Ausstellung (Amazon.de) präsentiert neue, interdisziplinäre, kunsthistorische Forschungsergebnisse und papierrestauratorische Untersuchungen, die im Jahr 1981 noch nicht vorlagen. Neben neuesten technologischen Untersuchungsmethoden flossen Perspektiven der optischen Theorie des 18. Jahrhunderts, der Tourismusforschung, der Sammlungsgeschichte und der Provenienzforschung in den Katalog ein.

Die fünf Spezialisten Mechthild Haas, Alexander Röstel, Ksenija Tschetschik-Hammerl, Udo Felbinger und Friederike Zimmern-Wessel untersuchen die Zeichnungen von Bernardo Bellotto, sein Netzwerk zwischen Venedig und Dresden, den Krieg in seinem Leben und Werk, die Provenienzforschungen zu seinen Radierungen sowie die restauratorische Bearbeitung und kunsttechnologische Aspekte seiner Zeichnungen. Hinzu kommen die Abbildungen seiner Zeichnungen, die wie in der Ausstellung unterteilt sind in die Themenblöcke Venedig und Lagune, Terraferma, Capricci, Rom-Florenz-Verona sowie „barocke Bühne“. Im Katalogteil hat zudem Susanne Lang – neben Mechthild Haas, Udo Felbinger und Ksenija Tschetschik-Hammerl – Einträge verfasst und zusammen mit Frau Haas und Herrn Felbinger die Provenienzrecherchen für Aussstellung und Buch gemacht.

Der Schwerpunkt der Darmstädter Zeichnungen liegt auf Bellottos italienischen Schaffensjahren zwischen 1735 und 1746, in denen sich die Entwicklung des jungen Künstlers zum eigenständigen Vedutenmaler vollzieht. Die ersten Blätter zeigen den Künstler noch ganz unter dem Einfluss seines Onkels Giovanni Antonio Canal, während späte Blätter schon eine grosse Eigenständigkeit erkennen lassen, die Bernardo Bellotto in Auseinandersetzung mit seinem berühmten Lehrer entwickelt. Die letzten Zeichnungen wiederum lassen bereits den eigenständigen Künstler erkennen.

In der Ausstellung Remember Venice! Bernardo Bellotto zeichnet (Amazon.de) im Hessischen Landesmuseums Darmstadt werden Bellottos Zeichnungen aus seiner Zeit in Italien durch einen Ausblick auf Bellottos Dresdner Schaffensperiode ergänzt. Dank einer Schenkung aus dem Jahr 2020 kann das HLMD mit über 30 Radierungen Bellottos Veduten von Dresden, Pirna und Königstein dokumentieren.

Noch ein „Detail“ aus dem Essay von Ksenija Tschetschik-Hammerl zum Thema „Der Krieg im Leben und Werk von Bernardo Bellotto“: Als der Künstler und sein älterer Sohn Lorenzo 1760 in Wien waren, mussten sie um das Leben der in Dresden zurückgebliebenen Familienangehörigen bangen. Das Königreich Preussen überfiel im August 1756 Sachsen, womit der Siebenjährige Krieg begann. Der sächsische Kurfürst war ein Verbündeter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia und damit Gegner des expansionistisch bestrebten preussischen Königs Friedrich II. Es gab nie eine offizielle preussische Kriegserklärung und nicht einmal einen realen Kriegsgrund, so der Historiker Klaus-Jürgen Bremm. Als Folge des Siebenjährigen Krieges verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation in Sachsen so sehr, dass Bellotto gezwungen war, anderswo nach Aufträgen zu suchen. Er fand Beschäftigung in Wien, wo ihn 1760 die Nachricht erreichte, dass die preussischen Truppen das damals inzwischen durch die österreichische Armee kontrollierte Dresden mit schwerer Artillerie bombardierten. Der Beschuss brachte die Stadt an den Rand einer humanitären Katastrophe. Der britische Diplomat und damals Sympathisant Preussens, Sir Andrew Mitchell, notierte entrüstet in einem Brief: »Ich kann über das Bombardement von Dresden, wie über viele andere Dinge, die ich gesehen habe, ohne Schrecken nicht nachdenken.« Bernardo Bellotto hatte Glück, denn seine Frau und die drei minderjährigen Töchter überlebten die Belagerung. Doch sein Haus in der Salzgasse wurde vollkommen zerstört und mit ihm auch sein gesamtes Hab und Gut. Zurück in Dresden dokumentierte der Künstler seine Verluste in einem »Catalogo« und schätzte dabei seine durch die Zerstörungen des Krieges entstandenen Schäden auf 50 000 Sächsische Taler ein. Der Künstler dokumentierte einige der Zerstörungen, so in der Radierung Die Trümmer der ehemaligen Kreuzkirche zu Dresden.

Die Darmstädter Schau ergänzt die 2022 Bellotto-Retrospektive in Dresden: Zauber des Realen. Bernardo Bellotto am sächsischen Hof (Katalog bei Amazon.de). Anders als die Gemäldebestände in Dresden richten die Darmstädter Zeichnungsbestände ihren Fokus auf Italien mit den Städten Venedig, Rom, Padua und Verona. Das HLMD zeigt die künstlerische Entwicklung Bernardo Bellottos und führt die grosse thematische Vielfalt und zeichnerischer Virtuosität seiner italienischen Veduten vor Augen. Das Buch präsentiert den aktuellen Forschungsstand. Hier erwähnt haben wir nur einige Angaben zur Provenienz der Zeichnungen in Darmstadt.

Remember Venice! Bernardo Bellotto zeichnet. Herausgeber: Hessisches Landesmuseum Darmstadt, Mechthild Haas. Sandstein Verlag, Oktober 2022, 216 Seiten, 156 meist farbige Abbildungen, 28 x 24 cm, Festeinband. Das Buch/Den Katalog zur Ausstellung bestellen bei Amazon.de.

Ebenfalls empfehlenswert: Zauber des Realen. Bernardo Bellotto am sächsischen Hof. Herausgeber: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Stephan Koja, Iris Yvonne Wagner. Sandstein Verlag, Mai 2022, 256 Seiten, 280 farbige Abbildungen, 28 x 24 cm, Festeinband. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Siehe zudem den englischen Artikel: Bernardo Bellotto paints Europe.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Remember Venice! Bernardo Bellotto zeichnet (Amazon.de) im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt (Graphische Sammlung) sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension von Ausstellung und Katalog Remember Venice! Bernardo Bellotto zeichnet im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt (Graphische Sammlung) vom 21. November 2022 um 14:45 deutscher Zeit.