Die Autobiografie von Rudolf Zwirner: Ich wollte immer Gegenwart

Aug 26, 2021 at 19:01 1069

Der Kunsthändler Rudolf Zwirner (*1933) schrieb Kunsthandelsgeschichte: In seiner Kölner Galerie zeigte der bedeutende, leidenschaftliche Kunsthändler seit Beginn der 1960er-Jahre in rund 300 Ausstellungen Werke von bedeutenden Künstlern wie Andy Warhol, Gerhard Richter, Georg Baselitz und Sigmar Polke. Mit seinem wichtigsten Sammler Peter Ludwig füllte er ein ganzes Museum. Kölns Status als Kunstmetropole ist nicht zuletzt Rudolf Zwirner als Mitbegründer der ersten Messe für zeitgenössische Kunst 1967 zu verdanken, die auf der ganzen Welt Massstäbe setzte (Art Cologne). In seiner von Nicola Kuhn aufgeschriebenen Autobiografie Rudolf Zwirner. Ich wollte immer Gegenwart berichtet einer der bedeutendsten deutschen Galeristen pointiert von den entscheidenden Menschen, Begegnungen und Momenten seiner Karriere.

Einige Angaben zum jungen Rudolf Zwirner und seiner Familie

Rudolf hat zwei ältere Brüder sowie eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder. Vater Eberhard Zwirner arbeitete seit 1929 als Sprachforscher für die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin, die heutige Max-Planck-Gesellschaft. Der Arzt gilt als Begründer der modernen Phonometrie. Mit der Entlassung des Institut-Leiters Oskar Vogt durch die Nazis 1938 musste auch Eberhard Zwirner gehen, da . Der arbeitslose Vater hatte nicht genügend Geld. Die Familie wurde getrennt. Die Mutter ging mit Rudolfs Geschwistern zurück in ihr Elternhaus nach Münster, der spätere Galerist wurde in die Obhut der Grossmutter väterlicherseits nach Podejuch in der Nähe von Stettin gegeben. Elisabeth Zwirner führte dort einem verwitweten Architekten und dessen kleinem Sohn den Haushalt. Als Sechsjähriger landete Rudolf bei einer harten Frau, die den Haushalt mit militärischem Drill führte. Es sei eine furchtbare Zeit gewesen, so Rudolf Zwirner.

Erst anderthalb Jahre später, 1940, wurde der Junge mit seiner Familie, nun in Braunschweig, wieder vereint. Der Vater gründete dort in jenem Jahr das Institut für Phonometrie der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Er hatte zuvor als Stabsarzt am Feldzug gegen Polen teilgenommen und suchte auf Heimaturlaub in Uniform Dietrich Klagges auf, den Ministerpräsidenten des Freistaats Braunschweig. Durch ihn hatte Hitler 1932 die braunschweigische Staatsbürgerschaft erhalten. Dadurch erst wurde der spätere Dikator im Deutschen Reich erst wählbar.

Klagges wollte Braunschweig zum NS-Musterland machen und holte dafür wichtige nationalsozialistische Institutionen in die Stadt wie die Akademie für Jugendführung, die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt, die Führerschule des deutschen Handwerks und die SS-Junkerschule. Der Vorschlag des Sprachvorschers war für die Nazis attraktiv. Es sollte vor allem das Deutschtum in der Sprache, das Germanische untersucht werden. Doch schon bald musste der Vater nach Warschau zurückkehren, wo er am Institut für Deutsche Ostarbeit im Generalgouvernement damit beauftragt war, die verschiedenen Sprachformen der Region zu untersuchen. Das Institut in Braunschweig wurde 1942 endgültig geschlossen. Der Vater blieb bis 1945 im Krieg, zuletzt in amerikanischer Kriegsgefangenschaft.

Die Mutter zog ihre fünf Kinder allein auf. Als praktizierende Protestantin engagierte sie sich sozial und unterrichtete nachmittags im Lyceum in Braunschweig ehrenamtlich Englisch. Sie hielt Kontakt zu SPD-Anhängern und anderen kritischen Kreisen und erfuhr dadurch viel. Diese Distanz gegenüber dem Staat habe er als Kind gespürt, so Rudolf Zwirner, spürte ich als Kind, auch wenn seine Mutter nicht offen darüber sprach, um die Kinder zu schützen.

Der Vater korrespondierte mit den Schriftstellern Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder, Rudolf Borchardt und Gottfried Benn, die Mutter las abends oft aus deren Werken vor. Von all diesen Autoren besass der Vater Erstausgaben. An den Wänden des Familienhauses hingen Reproduktionen von Kunstwerken, so von Caspar David Friedrich. Trotzdem habe Kunst in seinem Elternhaus keine grosse Rolle gespielt, so Rudolf Zwirner. Doch der Name Vincent van Gogh fiel schon einmal, denn Rudolfs Grossmutter war mit der van-Gogh-Sammlerin Helene Kröller-Müller befreunde, da sie beide gemeinsam in Düsseldorf die Schule besucht hatten. Rudolfs Eltern waren später mit dem Ehepaar
Kröller-Müller eng befreundet, das sich bei Vater Eberhard Zwirner medizinischen Rat einholte, ihr Hausarzt war Oskar Vogt. Noch 1941, als Helene Kröller-Müller bereits gestorben war, besuchten Rudolf und seine Mutter den schon schwerkranken Anton Kröller an dessen Sommersitz, dem Jagdhaus Sankt Hubertus bei Otterlo. Sam van Deventer, der Sammlungsberater der Familie Kröller-Müller, war der Patenonkel von Rudolf.

Doch der spätere Galerist erläutert, dass sein Interesse an Kunst, zunächst vor allem an der Architektur,
nicht zu Hause, sondern durch seinen Volksschullehrer geweckt wurde, der in Heimatkunde die historischen Bauten Braunschweigs vorstellte und merkte, dass sich der Junge für Architekturgeschichte interessierte. Er riet ihm deshalb, an den sonntäglichen öffentlichen Stadtführungen teilzunehmen.

Dieser Heimatkundelehrer bewahrte Rudolf vor den Nationalsozialisten. Als den Jungen eines Tages für die Napola, die Eliteschule der Nationalsozialisten, anzuwerben versuchte, weil er gross und sportlich war, setzte dieser Lehrer nach Rücksprache mit der Mutter Rudolfs Zeugnisnoten so weit herunter, dass er als Vorzeigeschüler nicht mehr infrage kam.

Rudolfs Einstieg in die Kunstgeschichte begann ebenfalls in jener Zeit. Er begann, eine Postkartensammlung mit über 1.000 Reproduktionen von Werken der Antike, der Renaissance, der Gotik und des Barocks anzulegen. Daneben besuchte er das Herzog Anton Ulrich-Museum mit seiner bedeutenden Niederländersammlung. System in seine Sammlung brachte damals die Kunsthistorikerin Eva Stünke, die Frau Hein Stünkes, der ein früher Freund von Vater Eberhard Zwirner war. Eva und Hein Stünke ermöglichten Rudolf später in ihrer Kölner Galerie Der Spiegel als Volontär den beruflichen Einstieg in den Kunsthandel. In der Nazizeit stand das Paar jedoch auf Parteilinie, so Rudolf Zwirner.

Er wollte immer Gegenwart

Dies sind nur einige, gekürzte Angaben zur Kindheit des bedeutenden Galeristen für zeitgenössische Kunst. Sie haben verstanden: Rudolf Zwirner. Ich wollte immer Gegenwart ist ein hochspannendes, detailreiches Buch, das es unbedingt zu lesen gilt. Der titelgebende Satz folgt im Schlusswort („Dank“) der Autobiographie:

Der Vorschlag, eine Autobiografie zu verfassen, ist oft an mich herangetragen worden, doch habe ich das nie gewollt – genauso wenig, wie ich mich je porträtieren lassen oder eine Sammlung anlegen wollte. Ich wollte immer Gegenwart, keine Rück- oder gar Nabelschau. In dem Maße aber, wie man mit dem Alter nachdenklicher wird, setzen Historisierung und Legendenbildung um die eigene Person ein. An dieser retrospektiven Betrachtung, an der naturgemäß viele ihren Anteil haben, möchte ich gerne aktiv mitwirken.

Nicola Kuhn, Rudolf Zwirner: Rudolf Zwirner. Ich wollte immer Gegenwart. Autobiografie aufgeschrieben von Nicola Kuhn. Wienand Verlag, Hardcover, Oktober 2019, 23,5 x 16,5 cm, 256 Seiten mit 36 farbigen und 36 s/w Abbildungen. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Buchkritik / Rezension der Autobiografie von Rudolf Zwirner hinzugefügt am 26. August 2021 um 19:01 deutscher Zeit. Update um 19:07. Hinzugefügt am 17.11.2021: Die bedeutendste deutsche Kunstmesse, die Rudolf Zwirner mitbegründet hat, ist die Art Cologne. Den Namen der Messe eingefügt.