Erdogan „gewinnt“ erneut eine Wahlfarce in der Türkei

Mai 30, 2023 at 14:55 424

Der Autokrat Recep Tayyip Erdogan (*1954) hat erneut eine Wahlfarce „gewonnen“. Seit vielen Jahren finden in der Türkei keine fairen Wahlen mehr statt. Erdogan, seine AKP und befreundete, opportunistische Mitläufer in den Medien, im Justizapparat und anderswo stellten sicher, dass es bei der Präsidentschaftswahl und Parlamentswahl vom 14. und 28. Mai 2023 nur einen Sieger geben konnte: Erdogan, seine Anhänger und Alliierten.

Noch Ende 2013 berichteten die Medien von einem abgehörten Telefongespräch, bei dem Erdogan seinem Sohn Bilal sagte, er solle Millionen in bar verstecken. Die Medien in der Türkei sind heute zu 90% gleichgeschaltet. Kritik an Erdogan kann zu Geldstrafen und Gefängnis führen. Von einer freien Presse kann keine Rede mehr sein. Wüsste die klare Mehrheit der Türken durch die Medien zum Beispiel von der massiven Korruption, von der entscheidenden Rolle Erdogans beim Absturz der türkischen Lira und der massiven Inflation, das Resultat bei der Stichwahl im Kampf um die Präsidentschaft vom 28. Mai 2023 wäre nach Auszählung von 99,85% der Stimmen nicht mit 52,16% für Präsident Erdogan und „nur“ 47,84% für Kemal Kılıçdaroğlu (*1948) zu Ende gegangen. Die Wahlbeteiligung bei der zweiten Runde betrug übrigens noch 83,87%, nach 87,04% in der ersten.

In der ersten Runde vom 14. Mai 2023 lag Erdoğan entgegen den Wahlprognosen überraschend mit 49,5% klar vorne. Sein potenzieller Alliierter, der Nationalist Sinan Oğan, ein ehemaliges Mitglieder der mit Erdogans AKP alliierter nationalistischer Partei MHP, kam auf erstaunliche 5,2%. Damit sahen die Chancen für den Oppositionsführer einer heterogenen Sechs-Parteien-Allianz, Kemal Kılıçdaroğlu, düster aus. Er gewann im ersten Wahlgang nur 44,9%. Eigentlich liessen die Wahlprognosen das umgekehrte Resultat erwarten. Der ebenfalls oppositionelle Muharrem İnce, der im letzten Moment seine Kandidatur zurückgezogen hatte, blieb auf den Wahlzetteln wählbar und holte 0,4%.

Da die Türkei (noch) kein totalitäres Regime ist, gibt es immer mal wieder Überraschungen. Trotz bereits damals unfairer Bedingungen gelang es der Opposition 2019, mehrere Städte zu gewinnen, darunter die Hauptstadt Ankara sowie Istanbul, die wirtschaftlich klar bedeutendste Stadt des Landes. Der neue Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu, galt als Hoffnungsträger auf der nationalen Ebene. Doch Erdogan stellte mit Hilfe der Justiz sicher, dass er bei der Präsidentschaftswahl 2023 nicht antreten konnte. Ihm wurde vorgeworfen, die Wahlkommission “beleidigt” zu haben, weshalb er bereits 2022 verurteilt und von zukünftigen Wahlen ausgeschlossen wurde. In Wahrheit wurde hier nur die Intelligenz der Wähler und Wahlbeobachter beleidigt. Bereits in der Vergangenheit hat Erdogan Oppositionelle durch fadenscheinige Mänover von der politischen Bühne entfernt. Seit 2016 sitzt der türkische Kurdenführer Selahattin Demirtas im Gefängnis. Tausende HDP-Mitglieder wurden verhaftet, Bürgermeister, Parlamentarier und andere Politiker der HDP ebenso bzw. mit einem politischen Betätigungsverbot belegt. Sie seien Terroristen und würden mit solchen zusammen arbeiten. In Wahrheit terrorisierte vor allem einer seit Jahren die Türkei: Recep Tayyip Erdogan. Zudem versucht er so den Schulterschluss der Opposition zu verhindern.

Der nun „wiedergewählte“ Präsident hat schon vor längerer Zeit den Weg zu mehr Demokratie verlassen, fast im Alleingang die Türkei ruiniert, und bereits 2018 eine Wahlfarce veranstaltet.

Wie kann eine Autokratie Teil der NATO sein? Die türkische NATO-Mitgliedschaft sollen ruhen, bis Erdogan den Rechtsstaat und die Medienfreiheit wiederherstellt, faire und freie Wahlen organisiert, etc. Dies sollte ebenfalls für jegliche Zahlungen der EU an die Türkei gelten. Doch wir werden von schwachen, inkompetenten und kurzsichtigen Politikern regiert, die nicht verstehen, dass Autokraten, Diktatoren und andere Gangster nur die Sprache der harten Hand verstehen.

Ein Beispiel ist Angela Merkel, die jahrelang die Flüchtlingskrise im Mittelmeerraum sowie Erdogan ignorierte, bis sie kurz vor einer entscheidenden türkischen Wahl im Jahr 2015 zu ihm, der sich zum Autokraten entwickelte, pilgerte und ihm entscheidende Wahlhilfe leistete, nur damit RTE die Flüchtenden bei sich aufnimmt, damit Deutschland verschont wird. Irgend ein grundsätzliches Problem hat die Kanzlerin dabei nicht gelöst, wie sie dies auch nicht bei der Energiewende, dem Atomabfall, den Rüstungsausgaben und der Armeereform, der Digitalisierung, der Infrastruktur allgemein, etc. getan hat. Angela Merkel gehört zusammen mit Barack Obama zu den meistüberschätzten Politikern der letzten Jahrzehnte.

Es gibt einige Gründe, weshalb Erdogan auf rund einen Drittel aller Wähler in der Türkei zählen kann, sowie einige, die ihm in entscheidenden Momenten als das vermeintlich „kleinere Übel“ oder aus Gründen einer falsch verstandenen „Stabilität“ die Stimme geben.

Im ersten Jahrzehnt an der Macht stieg die türkische Kaufkraft rund um das Vierfache. Auch wenn Erdogan nach Erdbeben und einer Wirtschaftskrise an die Macht kam, so war das doch ein grosser Fortschritt.

Erdogan hat zudem die Türkei wieder als Regionalmacht etabliert. So geht der Getreidedeal zwischen Russland und der Ukraine nicht zuletzt auf eine Initiative von ihm zurück. Die Aufnahme Schwedens in die NATO verhindert er bis heute. Mit Merkel und der EU gelang ihm ein milliardenschwerer Flüchtlingsdeal.

Die Türkei unterstützt die westlichen Sanktionen gegen Russland nicht, sondern profitiert im Gegenteil von günstigen Energielieferungen aus Russland. Putin baut zudem das erste Atomkraftwerk in der Türkei. Gleichzeitig liefert Erdogan Drohnen an die Ukraine im Kampf gegen Russland.

Im Jahr 2017 unterzeichneten die Türkei und Russland einen $2,5 Milliarden Deal über die Lieferung von russischen S-400 Luftabwehrsystemen, was die USA aus Sicherheitsbedenken dazu veranlasste, der Türkei die Lieferung von F-35 Kampffliegern vorzuenthalten.

Das gefällt vielen Nationalisten. In ihren Augen wird dank Erdogan die Türkei international wieder respektiert. Nicht zuletzt gefällt dies jenen Türken in Deutschland, die sich als Bürger zweiter Klasse sehen. Jene, die in der Türkei wählen dürfen, haben weitgehend Erdogan und seine Wahlallianz gewählt.

Mit der Ausnahme von Ankara, Istanbul, den Touristenstädten am Mittelmeer sowie vielen Kurden in der Südosttürkei habe viele Türken Erdogan und seiner Allianz die Stimme gegeben, denn sie Leben in Dörfern und Kleinstädten, die ländlich, patriarchal, religiös und nationalistisch geprägt sind. Seit Jahrzehnten triumphiert hier Erdogan mit seiner islamo-nationalistischen Botschaft, oft in vulgärem Ton vorgebracht, den die einfachen Leute verstehen. Selbst die hohe Inflation, der Zerfall der türischen Lira, die weitverbreitete Korruption, Vetternwirtschaft und Inkompetenz von Erdogan, der AKP und ihren Alliierten sowie die hohe Jugendarbeitslosigkeit von 19% schreckten sie nicht ab.

Hinzu kommt, dass das 6-Parteien-Oppositionsbündnis heterogen und in fundamentalen Fragen zerstritten war. Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ist blass, langweilig, aber ehrlich. Vor allem jedoch war er in Umfragen nicht der bestplatzierte Kandidat, um Erdogan zu schlagen. Dieser wiederum hat wie oben erwähnt sichergestellt, dass ein gefährlicher Rivale wie Ekrem Imamoglu erst gar nicht zur Wahl zugelassen wurde. Zudem tun bis heute die EU und die USA nicht genug, um Erdogan zur Rückkehr zur Demokratie zu zwingen. Sie scheuen sich vor harten Massnahmen.

Insbesondere die Europäische Union muss aufwachen. Innerhalb der EU werden das immer weniger demokratische Polen sowie Viktor Orbans illiberales Ungarn geduldet. Die EU schaut zu, wie die Türkei, Syrien, Tunesien, Libyen abdriften. Das Mittelmeer ist das mare nostrum. Europa hat ein Interesse daran, dass an den Ufern des Mittelmeers die Marktwirtschaft akzeptierende Demokratien florieren. Die EU hat zudem ein Jahr lang zugeschaut, wie Putin die Ukraine zerstört, ohne dass sie wirklich entscheidende Hilfe geleistet hätte. Insbesonder Scholz und Macron haben gezögert. Hinzu kommt die fehlende klare Strategie der EU gegenüber China, denn das asiatische Jahrhundert oder Zeitalter scheint vor der Tür zu stehen. Wo sind die strategischen Denker im Westen? Welche Aktionen werden unternommen, um eine lanfristige Strategie zumzusetzen?

Erdogan hat die Präsidenschaftswahl und die Parlamentswahl 2023 mit seiner Wahlallianz bestehend aus AKP, MHP und YRP “gewonnen”. Die absolute Mehrheit im Parlament verleitete wohl einige Wähler dazu, Erdogan die Stimme in der Stichwahl zu geben, damit der Präsident sich auf eine stabile Mehrheit stützen kann. Doch die nächsten türkischen Wahlen müssen fair und frei sein.

Die Demokratien dieser Welt – allen voran die EU-Staaten – müssen zusammenarbeiten, damit die nächsten Wahlen in Ländern wie Polen und Ungarn, aber auch in Belarus, Russland und der Ukraine, in Tunesien, Libyen und anderso frei und fair stattfinden. Zuwiderhandeln muss Konsequenzen haben. Politisch, diplomatisch, finanziell, wirtschaftlich und notfalls sogar militärisch. Demokratie und Rechtsstaat, Pressefreiheit, Freiheit der freien Meinungsäusserung, Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Irgendwo muss damit begonnen werden. Wo, wenn nicht in Europa und im Mittelmeer?

Hier ist anzufügen, dass der türkische Oppositionsführer Kilicdaroglu sich und seiner Kandiatur keinen Gefallen tat, als er zwischen der ersten und zweiten Präsidenschaftswahlrunde verkündete, bei einem Wahlsieg alle Syrer innerhalb von zwei Jahren nach Syrien zurücksenden zu wollen. Viele wären in Assads Gefängnissen und Folterkammern gelandet. So sollte die Alternative zu Erdogan nicht aussehen. Auch wahr ist, dass die Türkei als Nachbarland sehr viele Syrer aufgenommen hat, was zu Belastungen und Spannungen führt.

Für die türkische Lira sieht es düster aus, solange der „wiedergewählte“ Präsident an seiner fehlgeleiteten Niedrigzinspolitik festhält. Erdogan hat das Vertrauen in die türkische Währung, die Unabhängigkeit der Zentralbank, in die türkische Finanz- und Wirtschaftspolitik erschüttert. Macht er weiter so, werden dies viele seiner durch einseitige Propaganda fehlgeleiteten Wähler bald bereuen. Der Währungszerfall und die seit einiger Zeit wohl dreistellige jährliche Inflationsrate werden die Mehrheit weiter verarmen lassen.

Präsident Erdogan. Foto: Wikipedia / Wikimedia / public domain.

Artikel zur Präsidentschaftswahl und Parlamentswahl in der Türkei hinzugefügt am 30. Mai 2023 um 14:55 deutscher Zeit.