Stichwahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu in der Türkei

Mai 15, 2023 at 13:11 303

Am 28. Mai 2023 kommt es bei der türkischen Präsidentschaftswahl zur Entscheidung zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan (*1954) von der AK Party und seinem sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu (*1974).

Die Stichwahl zwischen den zwei alten Männern wäre eigentlich einfach, denn Erdogan hat sich in 20 Jahren vom Reformer, der in die EU strebte und im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft die Kaufkraft der Türken vervierfacht hat, zu einem korrupten Autokraten entwickelt, der mit seiner verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik das Land fast im Alleingang ruiniert hat.

Im April 2023 lag die offizielle Inflationsrate im Vergleich mit April 2022 bei rund 43%. Unabhängige Beobachter schätzen die Inflation auf in Wahrheit über 100%. So oder so, die Türkei leidet unter einer der höchsten Inflationsraten weltweit. Die meisten Türken verarmen.

Die türkische Lira verliert zudem gegenüber Euro und Dollar massiv an Wert. 2014 gab es für €1 rund 2,9 türische Lira. Bis 2023 ist diese Zahl auf 21,5 Lira für €1 gestiegen, so die Deutsche Welle im Mai 2023. Die französische Diskussionssendung C dans l’air berichtete ebenfalls im Mai, die türkische Lira habe in fünf Jahren gegenüber dem Euro 450% an Wert verloren. Die türkische Währung wird zur Zeit auf dem tiefsten Niveau seit der Einführung 2005 gehandelt.

Die Tagesschau berichtete am 14. Mai 2023, der Preis für ein Kilogramm Zwiebeln sei in Ankara innerhalb von 18 Monaten um 500% angestiegen. Deshalb posierte der blasse, aber ehrliche Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu in einem Wahlvideo, das von Millionen gesehen wurde, einfach nur mit einer Zwiebel, was für sich sprach.

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Was hat nun der türkische Präsident mit all dem zu tun? Wie so viele Autokraten leidet Recep Tayyip Erdogan an Grössenwahn. Seine „alternative“ Politik zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkrise und zum Kampf gegen die Inflation besteht in der irrigen Annahme, tiefe Zinsen würden es den Unternehmen ermöglichen, mehr zu investieren und so über Wachstum alle Probleme zu lösen. Doch dies führt zu mehr Krediten, zu mehr Nachfrage und deshalb zu einer Spirale immer höherer Inflation.

Im März 2021 entliess Präsident Erdogan den Gouverneur der Zentralbank (CBT), Naci Agbal, weil dieser es gewagt hatte, (richtigerweise) die Zinsen von 17% auf 19% anzuheben. Die CBT ist nicht mehr unabhängig und muss Erdogans „Voodoo“-Politik umsetzen. In der Folge haben die Zentralbank sowie die türkische Finanzpolitik insgesamt ihre Glaubwürdigkeit eingebüsst. Die hohe Inflation und der tiefe Fall der Lira sind der Preis für Erdogans unvernünftige Politik.

Die Präsidentschafts- und Parlementswahl vom Mai 2023 wären eigentlich DIE Chance für die rund 64 Millionen Wähler, Erdogan und seiner AKP den Laufpass zu geben. Der Autokrat und seine Regierung haben nicht nur in der Finanzpolitik versagt, sondern zudem bei den zwei Erdbeben im Febuar 2023, bei denen über 50,000 Menschen starben – und das sind die offiziellen Zahlen, die laut unabhängigen Beobachtern stark geschönt sind.

Die AKP kam vor rund 20 Jahren nach ebenfalls verheerenden Erdbeben und einer darauffolgenden Wirtschafskrise und Korruptionsvorwürfen an die damalige Regierung an die Macht. Erdogan und seine Partei versprachen damals, über strengere Bauvorschriften die Wiederholung eines solchen Desasters zu verhindern.

Nach dem Erdbeben in Izmir 2020 berichtete BBC News Türkçe, dass 672,000 Gebäude in Izmir von Bauamnestien profitiert hätten – gegen die Bezahlung einer Gebühr konnte gebaut werden, ohne die Erdbebenbestimmungen zu erfüllen. Derselbe Bericht zitierte das türkische Ministerium für Umwelt und Urbanisation mit den Worten, dass 2018 die Hälfte aller Gebäude (13 Millionen!) gebaut wurden, ohne die Vorschriften bezüglich Erdbebensicherheit zu erfüllen. Die türkische Regierung und Präsident Erdogan sind folglich durch die vielen Bauamnestien, die Nichtbeachtung von Erdbebenvorschriften bei Neubauten, die fehlende Umsetzung von eigenen Vorgaben für die hohen Opferzahlen bei Erdbeben wie im Februar 2023 mitverantwortlich. Dass die Behörden total versagt haben, so auch bei der Nothilfe nach den Beben, haben viele türkische Wähler allerdings nach einigen Wochen bereits wieder vergessen. Vor allem Bauunternehmer und andere werden dafür verantwortlich gemacht. Dies ist möglich, weil es in der Türkei fast keine unabhängigen Medien mehr gibt. 90% aller Medien werden von Erdogan und seine Freunden kontrolliert. Reporter ohne Grenzen sieht die Türkei im 2023 World Press Freedom Index auf Platz 165 von 180 Ländern.

Von fairen Wahlen in der Türkei kann schon lange keine Rede mehr sein. Das Online-Portal DarkWeb Haber berichtete, dass der Staatsfernsehsender TRT von April bis am 11. Mai 2023 Präsident Erdogan 48 Stunden und 45 Minuten lang zu Wort kommen liess. Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu bekam lediglich 41 Minuten. Die französische Journalistin Ariane Bonzon sagte in der Diskussionssendung C dans l’air, Erdogan habe im April 2023 rund 32 Stunden auf TRT erhalten, während dem Kilicdaroglu auf lediglich 32 Minuten kam.

Zurück zur Wirtschaft der Türkei: 2021 lag die offizielle Wachstumsrate bei 11%, 2022 bei 3%. Doch die hohe Inflation und der frei Fall der Lira haben die meisten Türken verarmen lassen. Das Pro-Kopf-Einkommen sank von $11,300 auf $9,300, berichtete Emal Atif in der Tagesschau vom 14 Mai 2023.

Angesichts der bevorstehenden Wahlen beschlossen Präsident Erdogan und seine Regierung Anfang 2023, den Mindestlohn um 55% und die Gehälter der Staatsangestellten um 30% anzuheben. Der IWF berichtete, die öffentlichen Schulden der Türkei seien in den letzten fünf Jahren um das Vierfache angestiegen. Dem muss entgegenhalten werden, dass laut Reuters vom 27. Februar 2027 die Staatsschulden der Türkei (gross government debt) bei lediglich 38% des BIP stehen. Allerdings sind die Schulden dabei, stark anzuwachsen, was auch mit dem Fall der Lira zusammenhängt.

Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei rund 10%, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt um die 19%.

Recep Tayyip Erdogan hat in den letzten Jahren nicht nur bei Wirtschaft und Finanzen versagt. Er sieht den Vielvölkerstaat immer mehr als Staat für Sunni (Religion) und Türken (Ethnie). Dabei trampelt er auf den Rechten von ethnischen, religiösen, kulturellen, sprachlichen und politischen Minderheiten herum, inbesondere von Kurden (Ethnie), Schiiten und Aleviten (Religion) – Oppositionsführer Kilicdaroglu ist Alevit, und wurde deshalb von Erdogan als Trinker angegriffen, da Aleviten Alkoholkonsum nicht ablehnen.

Nach dem gescheiterten Militärputsch 2016 nutzte Erdogan die Gunst der Stunde, um seine Macht weiter zu zementieren, die Türkei zu säubern, den Weg in den autoritären Einmannstaat zu gehen, um als Dikator zu enden, der keine Widerspruch mehr duldet.

Laut der offiziellen Sicht auf den Putsch, stand dahinter die Gülen-Bewegung. Erdogan und seine AKP säuberten nicht nur das Militär, sondern auch zum Beispiel die Justiz, die Polizei und das Erziehungssystem. Innert kürzester Zeit wurden Zehntausende verhaftet. Das lässt darauf schliessen, dass das Regime längst Listen mit jenen Menschen vorbereitet hatte, die bei Gelegenheit zu verhaften wären.

Die 2001 von Erdogan gegründete AKP ist die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die einst antrat, um die Korruption zu bekämpfen und den vielen armen Türken mehr Wohlsstand zu verschaffen. Heute stehen Erdogan und die AKP selbst für massive Korruption, Inkompetenz, Repression und die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung. Insbesondere viele Jugendliche und junge Menschen sehen keine Zukunft mehr für sich in der Türkei. Dennoch wird der harte Kern der Anhänger von Erdogan und der AKP auf rund 30% geschätzt. Es bleibt abzuwarten, wie die Stichwahl vom 28. Mai 2023 zwischen Erdogan und Kilicdaroglu ausgeht. Und die offiziellen Endergebnisse der Parlamentswahl liegen ebenfalls noch nicht vor.

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President Erdogan. Photo: Wikipedia / Wikimedia / public domain.

Artikel vom 15. Mai 2023 um 13:11 deutscher Zeit.