2016: Die Türkei auf dem Weg in einen autoritären Einmannstaat

Jul 19, 2016 at 09:19 216

[Aus unserem Archiv: Artikel vom 19. Juli 2016 um 09:19 dt. Zeit]

Das gestrige, erste Interview mit Erdogan nach dem Putsch, bei dem der Präsident wohl zuvor Kreide gefressen hatte, beantwortete viele Fragen nicht. Das Interview war natürlich länger als die erwähnten Auszüge. Dennoch bleibt unklar, wieso es der Regierung so schnell gelang, die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Ein inszenierter Coup erscheint zwar höchst unwahrscheinlich, doch hatten Regierung und Gehmeindienste vielleicht im voraus Wind von der Aktion bekommen. Vielleicht war der Putsch einfach nur von Anfang an dilettantisch und mit zu wenigen Leuten in der Hoffnung geplant worden, die knappe Hälfte der Bevölkerung, die von Erdogan nicht begeistert ist, würde sich ihnen anschliessen. Was wäre geschehen, hätten sie den Präsidenten zu Beginn der Aktion getötet?

Doch mit einem lebenden Erdogan war das Gegenteil der Fall. Der Präsident konnte über Privatsender, ein Smartphone sowie Twitter seine Anhänger sowie die treuen Kräfte des Staatsapparates mobilisieren, wobei die unfreiwillige Ironie gross war: Erdogan wird dank Privatsendern und sozialen Netzwerken, die er sonst so gerne gängelt, gerettet. Ja überhaupt, dass nun angeblich die Demokratie, die zuletzt vor allem Erdogan bedrohte, angeblich dadurch gerettet wurde, dass der am Cäsarenwahn leidende Präsident im Amt gehalten wird, glauben höchstens Erdogans glühendste Anhänger.

In jedem Fall ist es so, dass Erdogan und sein AKP-Regime nur auf einen solch günstigen Moment warteten, um vorher angefertigte schwarze Listen hervorzuholen, auf denen die Namen von dem Regime nicht genehmen Leuten stehen, die es nun aus dem Verkehr zu ziehen gilt.

Die Säuberungswelle hat längst eine Dimension erreicht, die mit dem gescheiterter Coup in keinem Verhältnis steht, ja schlicht nichts mehr mit ihm zu tun hat. Bisher beruhte die letzte Hoffnung auf fairen und freien Wahlen, um Erdogan auf legale und friedliche Weise loszuwerden. Nach dem gescheiterten Putsch ist die Wahrscheinlichkeit noch grösser, dass sich die Türkei auf dem Weg in einen autoritären Einmannstaat befindet. Ohne freie Presse, das Recht auf freie Meinungsäusserung und Gewaltenteilung kann man sich die nächsten Wahlen kaum als fair und frei vorstellen.

Einziger Lichtblick scheint eine scheinbare Entspannung im Verhältnis Erdogans zum privaten Medienkonzern Dogan Sirketler Grubu Holding A.S. zu bieten, dem Anteile am Fernsehsender CNNTurk gehören. Zumindest die Aktienmärkte glauben momentan daran.

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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.