2014 Erdogan will mehr Macht dank einer neuen Verfassung. Der neue Präsident strebt ein Präsidialsystem an

Aug 11, 2014 at 16:25 163

Ein klarer Wahlsieg für Erdogan in der Präsidentschaftswahl 2014

Wie bereits in einem englischen Artikel gemeldet, hat Tayyip Erdogan (*1954) am Sonntag, dem 10. August 2014, die türkische Präsidentschaftswahl gewonnen. Nach der Auszählung von 99,83% aller Stimmen erhielt er im ersten Wahlgang mit 51,8% eine absolute Mehrheit. Doch da dieses Amt nur weitgehend repräsentative Macht verleiht, strebt der neugewählte Präsident ein Präsidialsystem an. Dazu ist eine Verfassungsänderung nötig. Die gute Nachricht: Dazu bräuchte Erdogan eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Davon ist er zur Zeit weit entfernt. Bei den 2015 anstehenden Parlamentswahlen dürfte eine solche Mehrheit ebenfalls ausser Reichweite stehen.

Bei der Präsidentschaftswahl 2014 landete Ekmeledddin Ihsanogulu (*1943) mit 38,44% auf dem zweiten, der kurdische Kandidat Selahattin Demirtas (*1973) mit 9,76% auf dem dritten Platz. Erdogans eindrücklicher Wahlsieg gelang allerdings bei einer für die Türkei relativ geringen Wahlbeteiligung. Noch bei den Kommunalwahlen vom März bemühten sich 89% der rund 53 Millionen Wähler an die Urnen. Bei der Präsidentschaftswahl im August waren es nur noch rund 74%. Die Auslandtürken durften erstmals im Ausland an einer Wahl teilnehmen. Doch nur 8,3% der rund 2,8 Millionen Auslandtürken machten von diesem Recht gebraucht, wohl auch, weil dies nur an wenigen Orten möglich war und die Wahl in der Ferienzeit stattfand.

Viele Gründe ermöglichten Erdogan den klaren Sieg im ersten Wahlgang. Der Sieg war von den Wahlforschern vorausgesagt worden, weshalb viele Wähler zuhause blieben. Sie blieben auch zuhause, weil es ihnen an einer glaubwürdigen Alternative mangelte. Die zwei grössten Oppositionsparteien, CHP und MHP, hatten sich zwar löblicherweise auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten geeinigt, doch war ein konservativ-religiöser Kandidat, der bei vielen jungen und laizistischen Wählern nicht auf viel Gegenliebe stiess.

Der unabhängige Ekmeledddin Ihsanogulu ist ein Akademiker und Diplomat, der vor allem als Generalsekretär von 2014 bis 2014 der Organisation für Islamische Kooperation (OIP) bekannt wurde. Dem grösseren türkischen Publikum war er jedoch völlig unbekannt. Zudem blieb er während der Wahlkampagne fast unsichtbar, da sich die von der AKP direkt und indirekt kontrollierten Medien auf Recep Tayyip Erdogan in der Wahlkampfberichterstattung konzentrierten. Von einem fairen Wahlkampf konnte insofern keine Rede. Im Index für Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen rangiert die Türkei den auch auf dem erbärmlichen 154. von 180. Plätzen. Auf mehr als die erzielten 38,44% konnte Ekmeledddin Ihsanogulu denn auch nicht wirklich hoffen.

Der kurdische Kandidat, Selahattin Demirtas, gewann mit 9,76% vor allem kurdische Stimmen sowie wohl noch einige unzufriedene linke Wähler. Nebenbei bemerkt: Istanbul ist die grösste kurdische Stadt der Welt.

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Erdogan strebt ein Präsidialsystem an, das ihm mehr Macht gibt

Erdogan mag die Präsidentschaftswahl gewonnen haben, doch damit ist er noch nicht einmal zur Hälfte an seinem Ziel angelangt. Der Präsident hat nur beschränkte Macht, das mussten vor ihm schon die Premierminister Suleyman Demirel und Turgut Özal lernen, den ebenfalls vom Premierministerposten auf jenen des Staatschefs gewechselt hatten. Allerdings ist Erdogans Position innerhalb der AKP viel stärker als jene der zwei erwähnten früheren Premiers, die ins Präsidentenamt wechselten. Dennoch, ohne mehr Macht für sein neues Amt wird es für Erdogan nicht gehen, weiterhin die türkische Politik zu dominieren.

Noch im Wahlkampf hat er sich als Spalter der Nation gezeigt, der türkische Minderheiten wie die Armenier beschimpfte, um nationalistische Stimmen zu gewinnen. In seiner Siegesrede nach der gewonnen Wahl schlug er einen konzilianteren Ton an: „Ich werde nicht der Präsident nur für jene sein, die mich gewählt haben, sondern der Präsident von 77 Millionen.“ Diese Aussage machte er nicht, weil er plötzlich zum Staatsmann gereift war, sondern weil er noch viel mehr Stimmen braucht, um die Verfassung zu ändern. Wie er auf eine Zweidrittelmehrheit kommen will, bleibt schleierhaft. Dass er dieses Zeil bei den Parlamentswahlen 2015 erreichen kann, ist so gut wie unmöglich.

Erdogan rennt zwar von Wahlsieg zu Wahlsieg, so 2007, 2011, im März 2011 bei den Kommunalwahlen sowie jetzt erneut, doch der 52%-Erfolg bei der Präsidentschaftswahl war nur möglich, weil verschiedene Faktoren zusammen kamen: Die tiefe Wahlbeteiligung und die Massenmedien, die weitgehend unter AKP-Einfluss stehen. Erdogan ist zudem der erste führende Politiker, der die Sprache des Volkes spricht und als einer aus dem Volk gilt. Er kann sehr vulgär sein, doch wird er vom einfachen Mann ohne Bildung verstanden. Zudem ist die Türkei eine konservative Gesellschaft. Vor allem aber beruhen seine Wahlerfolge auf dem Umstand, dass das nominelle Bruttosozialprodukt pro Kopf sich in dem Jahrzehnt, in dem er an der Macht war, auf rund $10,000 pro Kopf verdreifacht hat. Das Wirtschaftswachstum war beeindruckend. Heute kommt zum Beispiel rund jeder dritte, in der EU verkaufte Fernseher aus der Türkei.

In dem Moment, in dem er an der Wirtschaftsfront nicht mehr liefern kann, wird seine Popularität sinken. Vor einigen Jahren fingen viele Türken an, auf Kredit zu leben. Sie importieren mehr als sie exportieren. Viele Türken können bereits ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen. Die wirtschaftliche Zukunft des Landes sieht im Moment nicht so gut aus wie das zurückliegende Jahrzehnt.

Hinzu kommen schwerwiegende Fehler Erdogans, die an seiner Popularität knabbern. Das Grubenunglück von Soma vom Mai 2014 ist so ein Fehler. Bereits Ende 2013 demonstrierten viele Minenarbeiter gegen die schlechten Bedingungen in den Kohleminen. Lediglich 20 Tage vor dem Grubenunglück brachte der Abgeordnete Özgür Özel, ein Mitglied der CHP aus Manisa, die Forderung nach einer Untersuchung der Bedingungen in den Minen ein, die 2012 und 2013 zu vielen Grubenunglücken geführt hatten. CHP, MHP und BDP unterstützten die Forderung, die jedoch mit Erdogans AKP-Mehrheit im Parlament abgeschmettert wurde. Die Soma-Minenbesitzer sind Alliierte der AKP, die von der Privatisierung 2005 profitiert hatten. Melike Dogru, die Frau des Geschäftsführers der Soma Bergwerksholding, wurde bei den Regionalwahlen im März 2014 für die AKP in den Stadtrat gewählt.

Nach dem Unglück wollte Erdogan nicht einsehen, dass er, seine Regierung und die AKP Fehler gemacht hatten. Im Gegenteil. Er reiste zwar löblicherweise zum Unglücksort, jedoch nur, um eine unsägliche Rede zu halten. Er sagte so erhebende Sätze wie: „Solche Unfälle geschehen in Minen in der ganzen Welt“, „sogar in den USA“, „Arbeitsunfälle sind normal“, wobei er Daten aus dem 19. Jahrhundert aus Grossbritannien zitierte! Erdogan schien nicht zu verstehen, dass wir nun im 21. Jahrhundert leben, dass er, seine Regierung und die AKP mitschuldig sind, dass die Zustände in einigen Minen unhaltbar sind. Es hätte nicht viel gefehlt, und Erdogan wäre in Soma von der aufgebrachten Menge aufgeknüpft worden. Zum Glück für ihn hatte er Leibwächter dabei und sass in einer Limousine. In den AKP-Medien waren davon natürlich nichts zu lesen und am Fernsehen nicht zu sehen.

Seit 2013 wird vielen Türken klar, wie korrupt ihre Regierung ist. Mehrere Minister mussten zurücktreten. Auf einem gemäss türkischen Freunden authentischen Bandmitschnitt ist Erdogans Sohn Bilal zu hören, wie er seinen Vater fragt, wo $25 Millionen zu verstecken seien. Laut türkischen Freunden handelte es sich dabei nur um eine letzte Zahlung, die der Sohn schliesslich in den Kauf von einigen Villen steckte. Tausende von Polizisten, die die Verfehlungen von Erdogan und seinen Ministern und anderen AKP-Leuten untersuchten, wurden von den Fällen abgezogen, zwangsversetzt, abgeschoben.

Die Mehrheit der Türken wird sich nicht auf ewig hinter die Fichte führen lassen. 70% der Türken leben bereits im urbanen Raum. Die Bildung nimmt zu, die Zahl der Ignoranten ab. Gleichzeitig gehört die Türkei bezüglich Einkommen, Gesundheit, Erziehung, Frauen am Arbeitsplatz, etc. zu den Ländern mit den grössten Verteilungsdefiziten. Sollte sich die wirtschaftliche Lage verdüstern, werden mehr Türken fragen stellen und nicht mehr beide Augen zudrücken nach dem Motto, alle türkischen Politiker sind korrupt, die AKP-Leute liefern wenigstens, was das Wirtschaftswachstum angeht.

Weiterhin gibt es innerhalb der AKP keinen potenziellen Rivalen, der Recep Tayyip Erdogan die Stirn bieten könnte. Präsident Gül, der sich hin und wieder Erdogan widersetzt hat, räumte kampflos seinen Stuhl an der Staatsspitze. Die Türkei braucht dringend neue Parteien, Politiker und Ideen, die eine glaubhafte Alternative zu Erdogan und seiner AKP darstellen. Liebe junge und frustrierte Türken, sitzt nicht zuhause rum und macht die Faust im Sack, gründet eine neue Partei!

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Das Foto oben zeigt Präsident Erdogan. Quelle: Wikipedia/Wikimedia/public domain.

Artikel vom 11. August 2014 um 16:25 CEST; zuletzt aufdatiert um 16:47. Neu hinzugefügt zu unseren neuen WordPress-Seiten am 13. Mai 2023 um 11:09 deutscher Zeit.