Der ehemalige KURIER-Chefredaktor und heutige NEOS-Parlamentarier Helmut Brandstätter schreibt in seinem neuen Buch Heilung für eine verstörte Republik (Amazon.de) gleich zu Beginn, die ÖVP sollte unter Sebastian Kurz zu einer türkisen Führerbewegung, einer Art „FPÖ light“ werden. Sie sollte gegen alles Fremde agitieren, im Zweifel auch gegen die Europäische Union und gegen Nachbarländer, aber mit dem freundlichen Gesicht eines jungen Mannes.
Helmut Brandstätter hebt hervor, unter Kurz sei Feind geworden, wer nicht bereit gewesen sei, sich zu unterwerfen. Er habe dies als Chefredakteur des KURIER erlebt, als ihm am 19. Juni 2017 der eben erst gewählte Obmann der ÖVP, Sebastian Kurz, bei einem Abendessen erklärte: „Du kannst nur mein Freund oder mein Feind sein.“ Er sagte zudem: „Ich erwarte die Unterstützung des KURIER bei der Nationalratswahl.“ Wenn er dazu nicht bereit sei, dann wäre für ihn, Kurz, offensichtlich, dass er, Brandstätter, sein Feind sein werde. Der Hinweis von Helmut Brandstätter, dass er sich in seinem Vertrag mit dem KURIER dazu verpflichtet habe, eine unabhängige Tageszeitung zu machen, ihn also gar nicht unterstützen dürfe, interessierte Sebastian Kurz nicht. Helmut Brandstätter rechtfertigt sich, dieses Gespräch nicht sofort öffentlich gemacht zu haben, mit dem Satz, er fühlte sich zwar bedroht, gar erpresst, aber nach seinem Gefühl sei da ein unsicherer junger Mann gesessen, kein abgezockter Polit-Funktionär. Diese Einschätzung sollte sich ändern.
Helmut Brandstätter meint allerdings, die Skandale, die das System Kurz begleiteten, seien nicht vergleichbar mit den vielen Korruptionsaffären der vergangenen Jahrzehnte. Da sei es um Machtmissbrauch und Bereicherung gegangen. Doch in den Jahren zwischen 2016 und 2021 sollte die Republik umgebaut werden, rund um eine einzige Person, nicht für eine Idee, sondern für die umfassende und anhaltende Erhaltung der Macht. Er schreibt von der „Kurz-Partie“ – im Gegensatz zu Partei. Die ÖVP sollte zur Bewegung von uniformen und türkisen „Jüngern“ werden, die dann einzelne Institutionen und das Denken vieler Menschen formen sollten. Doch die Partie übernahm sich und scheiterte letztlich an sich selbst, so unser Autor.
Zum System Kurz gehörte die Einwegkommunikation. Doch wer nur Bilder und Geschichten verkaufe, nicht manage, könne in der Krise weder konzise noch flexibel reagieren. Am Ende habe es in der ÖVP selbst viele Verletzungen gegeben, die bis heute nicht geheilt seien. Hinzu kommen die Verletzungen von Justiz und Parlament, Politik und Journalismus. Helmut Brandstätter schreibt von einem Verführer, der in Richtung autoritärer Staat marschiert sei. Die Corona-Pandemie und die Massnahmen der Regierung hätten zu Ängsten geführt und den Nährboden für allerlei Verschwörungen gelegt. Ehrliche Kommunikation habe unter Sebastian Kurz bewusst nicht stattgefunden.
Der Autor präsentiert in Heilung für eine verstörte Republik (Amazon.de) zehn Ideen zur Verbesserung Österreichs und seiner Institutionen. In Zeiten von fehlendem Wachstum bei gleichzeitiger Inflation gehe es wieder um den Ausgleich in der Gesellschaft, um Verteilungsgerechtigkeit. In diesem Kapitel widmet er sich zudem – wie bereits in einem früheren Buch – den Herren Kurz und Kickl: beide bauten ihren politischen Erfolg auf Ausgrenzung und Radikalisierung auf, der eine mit strenger Miene, der andere mit freundlichem Gesicht. Beide wollten autoritär regieren, eine Zeit lang durchaus gemeinsam, so Helmut Brandstätter.
Im nächsten Kapitel empfiehlt unser Autor die Stärkung der Institutionen. Die Republik Österreich wirke müde und ausgelaugt. Er spricht das „Projekt Ballhausplatz“ an, empfiehlt die Trennung von Staat und Parteien – das Stichwort „das Rote Wien“ kommt allerdings in seinem Text nicht vor, dafür Missstände in der Verwaltung, das neue Parteiengesetz und mehr.
Im Kapitel zum Parlamentarismus verweist Helmut Brandstätter u.a. auf die Schweiz und seinen Bundesstaat, in dem jeder Kanton gleich viele Mandatare in den Ständerat sendet. Doch das führt zu Verzerrungen, wenn der bevölkerungsreiche Kanton Zürich mit seinen über 1,5 Millionen Einwohnern wie der Kanton Uri mit unter 40,000 Einwohnern nur über 2 Ständeräte verfügt. Hinzu kommt, dass dabei kleine Parteien unter den Tisch fallen. Hier hätte Brandstätter eher anfügen sollen, dass Österreich von der Schweiz den perfekten Bikameralismus übernehmen sollte: Die beiden Parlamentskammern haben die gleichen Rechte, sind gleichgestellt. Zurecht bemängelt der Autor hingegen den Einfluss der Bünde in Österreich, die Geringschätzung der Rolle der Opposition, ja des Parlaments überhaupt, die wenigen Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle der Regierung. Laut Brandstätter sollten Rede und direkte Gegenrede bei Parlamentsdebatten ermöglicht werden.
Helmut Brandstätter fordert eine Justiz, die wieder in Ruhe arbeiten kann. Er verweist auf eine Mitarbeiterin der Wirtschafts- und Korruptionsanwaltschaft, die diese Institution wegen „Druck von oben“ verlassen hat. Druck auf die Justiz habe es schon früher gegeben, so von Jörg Haider. Brandstätter spricht die Affäre um den Eurofighter an, jene um die Rechtsschutzbeauftragte der Regierung, die Inseratenaffäre und vieles mehr.
Der ehemalige Journalist fordert in seinem Buch die Akzeptierung der Medien als unabhängige Kontrollinstanz. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Nicht so in Österreich, wie die oben erwähnten Ausführungen über Druck von Kurz auf den Chefredaktor Brandstätter ebenso zeigen wie die Macht der Regierung durch das Schalten oder Nicht-Schalten von Inseraten in Zeitungen und anderen Medien. Doch es gibt auch Druck von der Presse: Fliesst kein Geld, wird die Regierung runtergeschrieben. Er nennt dazu eine bekannte Anekdote, zu der jedoch niemand namentlich als Zeuge Stellung nehmen wolle. Zum ORF schreibt Helmut Brandstätter, nur Bundeskanzler Josef Klaus (1964-70) habe es mit der Unabhängigkeit des 1967 gegründeten Senders ernst genommen, sich auf den ersten ORF-Generalintendanten Gerd Bacher berufend. Der Autor zitiert Reporter ohne Grenzen zur heutigen Lage: „Die ständige parteipolitische Einflussnahme auf den ORF muss dringend ein Ende haben, um nicht den Weg von Ungarn, Russland, der Türkei und den vielen Ländern zu folgen, in denen die öffentlich-rechtlichen Medien unter völliger Kontrolle stehen.“
Neben vielen von rechten Politikern zu verantwortenden Skandalen im Medienbereich erwähnt Helmut Brandstätter zudem kurz, dass die SPÖ der Stadt Wien seit 1945 sehr teure Methoden entwickelt habe, sich freundliche Berichterstattung zu kaufen. Dazu hätte der Schreibende gerne ein paar Details erfahren. Das beste Mittel gegen Druck und Korruption sei Transparenz, so Helmut Brandstätter.
Der Autor fordert im folgenden Kapitel Politik als Beruf mit Ideen und Verantwortung. Er erwähnt unter anderem, wie Jörg Haider nach Gutsherrenart persönlich Steuergeld verteilte, und es ihm verziehen, ja zum Teil sogar gedankt wurde. Nettes Aussehen und gute Reden seien nicht genug, meint Helmut Brandstätter mit Verweisen auf Politiker wie Jörg Haider, Karl-Heinz Grasser und Sebastian Kurz. Der Autor bemängelt Stilwechsel anstelle von Inhalten, Ideen, konkreten Vorstellungen zur Zukunft. Er unterstreicht, jemand, der sonst nichts könne, sei auf die Politik als Erwerbsgrundlage angewiesen, damit aber auch abhängig, und zwar von der eigenen Partei, von Strömungen oder gar Strippenziehern der Partei. Ein Leben in der Politik, von der Jugendorganisation bis zur Pensionistenorganisation, hätten früher einige geschafft, in der schnelllebigen heutigen Zeit sei das kaum noch vorstellbar. Da kommen dem Schreibenden allerdings einige Namen in den Sinn, nicht nur in Österreich.
In einem weiteren Kapitel fordert der Autor, der für die liberalen NEOS im Parlament sitzt, Freiheit und Eigenverantwortung als zentrale Werte der Demokratie. Darin verweist er auf den Unterschied zwischen Libertären wie Peter Thiel, der Konkurrenz ablehnt und auf Monopole setzt, und Liberale, die eben gerade gegen Monopole (ich: sowie Oligopole, Kartelle, etc.) kämpfen.
Der Ausgleich zwischen Jung und Alt, eine Sicherheitsstrategie für Österreich sowie Verteilung und Teilhabe sind weitere Themen von Helmut Brandstätters neuem Buch, in dem er eine Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen autoritären Systemen und liberalen Demokratien voraussieht – diesen letzten Punkt sehe ich hier ähnlich: The beginning of the Asian century. Für den Autor gehört die heutige zu den glücklichsten Generationen, die je in Österreich gelebt haben, doch müssten die Österreicher mehr dafür tun, dass es auch so bleibe.
Helmut Brandstätter: Heilung für eine verstörte Republik, Kremayr & Scheriau, August 2022, 160 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
Siehe von Helmut Brandstätter ebenfalls die Bücher Kurz & Kickl sowie Letzter Weckruf für Europa.
Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Heilung für eine verstörte Republik sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.
Rezension / Buchkritik vom 13. September 2022 um 17:27 österreichischer Zeit.