Brandstätter: Letzter Weckruf für Europa

Apr 23, 2021 at 12:59 2517

Das neueste Buch von Helmut Brandstätter (*1955) heisst Letzter Weckruf für Europa. Der langjährige, ehemalige Journalist, u.a. beim ORF, Chefredakteur und Geschäftsführer bei n-tv sowie Chefredakteur und Herausgeber des Kurier, sitzt seit 2019 für die liberalen NEOS im österreichischen Nationalrat.

Helmut Brandstätter sorgt sich in fünfzehn Kapiteln um die Zukunft Europas und der EU: Identität, Illusion, Geschichte, Entschlossen, Solidarität, Geld, Lernen, Lebensart, Balkan, Kandidaten, Zerfall, Krieg, Reform, Klimawandel und Weckruf.

Er beklagt, dass in einigen ehemals kommunistischen Ländern die Metamorphose der Funktionäre zu Dienern des Rechtsstaats nur vorübergehend funktionierte. Der Versuchung, mit zusehends autoritären Methoden zu regieren, erlagen vor allem die polnische Führungsschicht und Viktor Orbán in Ungarn. Die Stichworte Illiberalimus und Horthy sucht man in Letzter Weckruf für Europa allerdings vergeblich.

Die Pandemie änderte laut dem Autor den Schwerpunkt des Buches. Es geht Helmut Brandstätter nicht mehr nur um die Geschichte der letzten 30 Jahre, um den auch in Westeuropa verbreiteten Rechtspopulismus und die Gefahr des Rückfalls in autoritäre, korrupte Strukturen. Nach dem Ausbruch von Covid-19 hat er sich stark auf die Zukunft der EU konzentriert: Schaffen wir es, gemeinsam aus der Krise zu kommen? Verstärkt die Bekämpfung des Virus die Lust der Regierenden, den Rechtsstaat zu umgehen? Wie soll der Aufnahmeprozess der Balkanstaaten weitergehen? Welche Gefahren drohen von aussen, gibt es gar die Gefahr eines neuerlichen Krieges in Europa? Wie wird sich das im Juli in Brüssel beschlossene 1,8-Billionen-Euro-Paket der Europäischen Union auf den Zusammenhalt eines zusehends integrierten Staatenverbundes auswirken, der erstmals gemeinsame Schulden aufnimmt? Wird die EU Bestand haben, gar zu Vereinigten Staaten von Europa führen? Und wie wirkt die vielfältige Geschichte Europas nach, die die Menschen oft genug geteilt, durch den Nationalismus gegeneinander aufgehetzt und in Kriege geführt hat?

Helmut Brandstätter sieht zurecht die Pressefreiheit in mehreren Staaten in Gefahr, insbesondere in Ungarn, und damit die Demokratie. Gleichzeitig betont er, dass der gesamte Balkan in die EU gehört, wobei die Führungsschicht jener Länder allerdings die Regeln und Werte der Union anerkennen müssen. In der EU sieht er einige verführte Führer am Werk.

In seinem im August 2020 abgeschlossenen Manuskript beklagt Helmut Brandstätter den Rückzug der USA aus Europa, eine Entwicklung, die ein Präsident Biden höchstens verlangsamen würde. Doch das scheint bisher nicht der Fall zu sein. Brandstätter denkt, dass sich Europa selbst mehr um seine Sicherheit kümmern muss. Das ist richtig.

Ich würde jedoch unterstreichen, dass dies über eine erweiterte Nato (die logischerweise umbenannt werden müsste) geschehen muss, mit der EU als gleichwertigem Partner der USA, in der Demokratien rund um die Welt beteiligt werden (Japan, Südkorea, Indien, Chile, etc.). Nur so können China, Russland, Iran und andere in Schach gehalten werden. Das wird ein langer Weg.

Die USA sah Helmut Brandstätter 2020 unter Präsident Trump als ehemaligen Freund und unsicheren Partner. Diese Einschätzung dürfte sich heute mit Präsident Biden gewandelt haben.

Helmut Brandstätter sieht China als Gefahr und Chance, auf dem Weg zur Nummer eins, und zwar mit allen wirtschaftlichen, politischen und militärischen zur Verfügung stehenden Mitteln. Diese wirken oft freundlich, wie das Projekt der „Neuen Seidenstrasse“, aber die Führung in Peking will damit auch Europa spalten. Russland sieht unser Autor als „Aufgabe“, Russland soll Partner werden, aber nur zu klaren Bedingungen der Einhaltung des Völkerrechts, dazu gehört auch das Respektieren von Staatsgrenzen. Im Moment sieht es nicht danach aus, dass Putin nach unseren Regeln spielen möchte. Der Nationalrat von NEOS glaubt, dass Russland meint, auf seine militärische Stärke setzen zu müssen, denn seine Wirtschaftsleistung ist sehr bescheiden.

Helmut Brandstätter schreibt: Die Briten sind aus der EU ausgetreten, weil sie wieder souverän sein wollen. Wie wenig sie das wirklich sind, zeigt uns das Verhalten Pekings in Hongkong und die Hilflosigkeit Londons. Ein vereintes Europa, das wirtschaftlich, politisch und militärisch wie eine Grossmacht agiert, müsste China akzeptieren.

Helmut Brandstätter denkt bei seinem Buch an seine Familiengeschichte, den Vater im Österreich der 1930er Jahre und unter den Nazis, an die Zukunft seiner Kinder sowie an die Menschen in den Staaten des Balkan, deren Eltern und Grosseltern noch das Trauma der grausamen Kriege der 1990er Jahre verarbeiten müssen, wo aber viele Jugendliche bereits über die Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Dabei brauchen sie mehr Unterstützung durch die EU.

Als wichtigen Beitrag, um die Jugend für Europa zu gewinnen sieht Helmut Brandstätter die EU-Programme ERASMUS sowie ERASMUS+ für Lehrlinge, wobei das letztere leider noch zu wenig genutzt werde. Vier Wochen InterRail für alle 18-Jährigen würde viel zum gegenseitigen Verständnis beitragen, so unser Autor. Immerhin finanziere die EU auf Initiative des Parlaments seit 2018 20.000 kostenlose Interrail-Tickets, die nach einer Ausschreibung vergeben werden. Als Teenager fuhr der Schreibende jeden Sommer mit Interrail durch ganz Europa. Es war damals nicht kostenlos, aber günstig. Das würde schon reichen.

Helmut Brandstätter glaubt, dass in Europa ein Krieg wieder möglich sein wird. Er werde wohl nicht mit einem Ansturm von Panzern oder Flugzeugen beginnen, sondern als hybrider Krieg mit Nadelstichen gegen demokratische Einrichtungen oder wichtige Infrastruktur. Dagegen kann sich Europa nur gemeinsam rüsten. Die Souveränität eines Nationalstaates sieht er als pure Illusion. Wahre Souveränität gibt es für ihn nur in einem starken, also einigen Europa.

Deshalb hat Helmut Brandstätter diesen Weckruf verfasst, denn für ihn steht rund 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa (erneut) alles auf dem Spiel: Frieden, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand sowie die europäischen Werte der universellen Menschenrechte.

Helmut Brandstätter: Letzter Weckruf für Europa, Kremayr & Scheriau, September 2020, 288 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Buchrezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension von Helmut Brandstätter: Letzter Weckruf für Europa hinzugefügt am 23. April 2021 um 12:59 österreichischer Zeit.