Herbert List. Das magische Auge

Aug 21, 2022 at 15:55 713

Herbert List. Das magische Auge nennt sich der Beitrag das Bucerius Kunst Forums zur Triennale der Photographie in Hamburg 2022, der in Zusammenarbeit mit dem Münchner Stadtmuseum und dem Herbert List Estate entstand.

Ausstellung und Katalog (Amazon.de) Herbert List. Das magische Auge sind das Werk von Kathrin Baumstark, Ulrich Pohlmann und Peer-Olaf Richter. Der gebürtige Hamburger Fotograf, Weltbürger, Homosexuelle und laut den Nazis „Vierteljude“ Herbert List wird noch bis am 11. September 2022 im Bucerius Kunst Forum in Hamburg mit rund 240 Originalaufnahmen aus den Jahren von 1930 bis 1965 gewürdigt.

Die gesamte Bandbreite des oft zeitlos wirkenden Œuvres des Magnum-Fotografen wird in sieben Kapiteln präsentiert: von den anfänglichen Streifzügen durch das nächtliche Hamburg über seine Eindrücke des untergegangenen antiken Griechenland, seine Fotografia Metafisica (seine vor 1945 entstandenen surrealistischen Werke, inklusive Stillleben), die Aufnahmen junger Männer, Photos der pulsierenden Städte Italiens, die Porträts der grossen Künstler:innen seiner Zeit bis hin zu seinen einfühlsamen Reportagen; verstörend aktuell wirken Fotos des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Kiew. Daneben fotografierte Herbert List den von Adolf Hitler direkt protegierten Bildhauer und Architekten Arno Breker.

In seinen surrealistischen Werken vor 1945 wollte Herbert List das Hintergründige und Mehrdeutige der Wirklichkeit sichtbar machen. Vorbilder waren Man Ray, Florence Henri, Max Ernst oder Giorgio de Chirico. Mit seinen bildgewordenen Träumen einer lebendigen Antike in Griechenland und seinen Männerakten legte er ein Bekenntnis zur eigenen Homosexualität ab. Seine Fotos vom Meer vermitteln, wie sich die Sonne und das Salz auf der Haut anfühlen. Unter den vielen Porträts sind solche von Künstlern, Schauspielern und Schriftstellern wie Pablo Picasso, Marc Chagall, Georges Braque, Hans Arp, Marino Marini, Giorgio Morandi, Colette, Marlene Dietrich, Anna Magnani und Ingeborg Bachmann. Herbert Lists Bildreportagen umfassen Fotos zu aussereuropäischen Kulturen sowie die Dokumentation der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs im zerstörten München.

Zur Biografie ist in Ausstellung und Katalog von Nadine Isabelle Henrich und Peer-Olaf Richter zu lesen, dass Herbert List (1903-1975) nicht nur der Sohn eines Hamburger Kaffeegrosshändlers war, sondern selbst gelernter Kaufmann. Zur Fotografie kam er Ende der 1920er Jahre als Autodidakt. Zunächst machte er vor allem Aufnahmen in seinem privaten Umfeld, bei Ausflügen an die Elbe oder an die See – eine willkommene Abwechslung zu seinem Arbeitsalltag im Familienunternehmen. Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten wendete sein Schicksal: Laut der rassistischen Ideologie der Nazis war er „Vierteljude“, da er einen jüdischen Grossvater hatte. Als weitere Gefährdung kam seine Homosexualität hinzu. Deshalb sah er sich 1936 gezwungen, Deutschland zu verlassen.

Vor der Emigration prägt ihn die schwule Kultur in Deutschland in den für ihn unbeschwerten 1920er Jahren. Er verkeht mit Eduard Bargheer, Gustaf Gründgens, Erika und Klaus Mann, die bei ihm zu Gast sind. Herbert List hat übrigens nicht nur Affären mit Männern. Nach einer Party 1928 bei seinem Freund Curt Valentin trägt eine Nacht mit der Psychologiestudentin Charlotte Eisen „Früchte“ (Zwillingstöchter!), die ihm erst Jahrzehnte später offenbart werden. Die Begegnung mit dem aus Oxford stammenden Dichter Stephen Spender regte diesen zum Roman The Temple an. Für den Schriftsteller repräsentierten Herbert List und sein Zirkel das aufgeschlossene Deutschland, für das Leben, d.h. Freundschaft, freie Liebe, Körperkultur, Natur und Sonne mehr zählte als Politik, Geschäft, Karriere.

1930 lernt Herbert List den Architekten und Bauhaus-Absolventen Andreas Feininger kennen, der in Hamburg als Zeichner im Architekturbüro der Kaufhauskette Karstadt arbeitet. Feininger war schon 1929 an der Ausstellung Film und Foto (FiFo) in Stuttgart mit Aufnahmen beteiligt. Laut Nadine Isabelle Henrich und Peer-Olaf Richter überredet er List zum Erwerb der neuen doppellinsigen Spiegelreflexkamera Rolleiflex, mit der das fotografische Komponieren noch intuitiver wird. Angeregt durch die neue Technik und die Freundschaft mit dem formal-analytisch arbeitenden Feininger beginnt der eher kontemplativ-romantisch sehende List, sich intensiver der Fotografie zu widmen. Sie fotografieren sich und ihre Freunde und erforschen die Möglichkeiten des Mediums.

Mit dem Tod des Vaters 1931 wird die komplette Übernahme der Firmengeschäfte für Herbert List zur Belastung. Ausflüge mit Freunden, die er mit der Kamera tagebuchartig begleitet, und das Fotografieren in der Freizeit werden als Ausgleich wichtiger. Seine surrealen Inszenierungen mit Requisiten und Statisten wirken zwar spielerisch und leicht, sind aber Belege einer ernsthaften Beschäftigung mit den oben erwähten Vorbildern Man Ray, Florence Henri, Max Ernst oder Giorgio de Chirico.

Reisen nach Italien, Südfrankreich und Tunesien zusammen mit Begegnungen mit den Fotografen George Hoyningen-Huene und Host P. Horst folgen. Nadine Isabelle Henrich und Peer-Olaf Richter beschreiben wie in Deutschland unter den Nazis ab 1933 Antisemitismus, Rassismus und Homophobie um sich greifen, während dem Herbst List erste Veröffentlichungen in internationalen Medien hat, so 1935 im Jahrbuch Photographie mit der Aktstudie eines afrikanischen Mannes, wodurch er in seinen künstlerischen Ambitionen bestärkt wird.

For Homosexuelle wird 1936 die Lage in Deutschland immer bedrohlicher. Daher emigriert Herbert List in Begleitung seines Geliebten Ritti (Heinz Rittmeister) zuerst in die Schweiz und danach weiter an die Italienische Riviera. Nach einem sorglosen Sommer lebt er bescheiden in kleinen Hotels in Paris, nimmt Kontakt zu Verlagen und Werbeagenturen auf, denn auf längere Sicht soll die Fotografie sein Broterwerb werden. Nadine Isabelle Henrich und Peer-Olaf Richter beschreiben, wie ein Netzwerk von schwulen Künstlern in Paris und London ihm hilft, Fuss fassen. In seinem Adressbuch der 1930er Jahre finden sich so illustre Namen wie der Poet Jean Cocteau, der Modemacher Christian Dior, die Schriftsteller Christopher Isherwood und Maurice Sachs, die Fotografen Cecil Beaton und André Ostier.

Von 1937 bis 1939 lebte Herbert List abwechselnd in Paris und Athen. Ein kurzer Sprung ins Jahr 1943: Herbert List nimmt einen Auftrag des Ostministeriums für „künstlerische Bildberichte“ in den besetzten Ostgebieten an. Am 4. Juni fliegt er von Berlin-Staaken nach Kiew. Nach acht Wochen muss er seine Serie über die geschundene Ukraine, deutsche Mennoniten-Siedlungen und die idyllische Krim jedoch beenden: Eine Anfrage des Wehrmeldeamts hatte das Ostministerium darüber unterrichtet, einen „Nichtarier“ beschäftigt zu haben. Der Auftrag wird zurückgezogen, ein Honorar von 1280 Reichsmark erhält er dennoch, so Nadine Isabelle Henrich und Peer-Olaf Richter.

1944 wird er als arbeitsverwendungsfähig, aber nicht tauglich für den Wehrdienst eingestuft und wird als Verwalter eines Kartenlagers in das norwegische Bergen geschickt. Dies sind nur einige wenige Angaben zum aufregenden Leben von Herbert List. Viel mehr gibt es ihm Bucerius Kunst Forum in Hamburg sowie im dazugehörigen Katalog zu entdecken, nicht zuletzt viele grossartige schwarz-weiss Fotos!

Herbert List. Das magische Auge, Bucerius Kunst Forum, Hirmer Verlag, 2022, 288 Seiten mit 318 Abbildungen, mit Beiträgen von Kathrin Baumstark, L. Derenthal, K. Dyballa, H.-M. Koetzle, Bernhard Maaz, Ulrich Pohlmann, E. Ruelfs, P.-O. Richter, N. Henrich. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Den Buchumschlag ziert das um 1937 entstandene Foto „Unter dem Poseidontempel“, Sounion.

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Buchkritik / Rezension hinzugefügt am 21. August 2022 um 15:55 deutscher Zeit.