Johann Heinrich Füssli: Mode – Fetisch – Fantasie

Jun 01, 2023 at 15:50 501

Sex sells, das war bereits im 18. Jahrhundert so, wenn auch etwas subtiler als heute. Das zeigte eine Ausstellung, die einem der exzentrischsten, originellsten und umstrittensten Künstler Europas im 18. Jahrhundert gewidmet war.

Nach der Courtauld Gallery in London vom 14. Oktober 2022 bis am 8. Januar 2023 unter dem Titel Fuseli and the Modern Woman: Fashion, Fantasy, Fetishism zeigte das Kunsthaus Zürich vom 24. Februar bis am 21. Mai 2023 die Ausstellung unter dem Titel Füssli: Mode – Fetisch – Fantasie, kuratiert von David H. Solkin und Ketty Gottardo. Der gleichnamige, sehens- und lesenswerte deutschsprachige Katalog ist erhältlich beim Verlag Scheidegger & Spiess (2023, 168 Seiten; Amazon.de).

Johann Heinrich Füssli (1741-1825) darf nicht verwechselt werden mit anderen Berühmtheiten aus dieser Familiendynastie, zu der zum Beispiel Wilhelm Heinrich Füssli gehört.

Der in London später als Henry Fuseli bekannte Johann Heinrich wurde als zweites von fünf Kindern des Malers und Schriftstellers Johann Caspar Füssli (1707–1782) und dessen Ehefrau Elisabeth Waser geboren. Seine Schwestern Elisabeth (1744-1780) und Anna (1749-1772) wurden ihrerseits anerkannte, in Zürich tätige Blumen- und Insektenmalerinnen, wobei sie allerdings an ihren älteren Bruder nicht heranreichten.

Die Londoner Schau gehörte nach der Wiedereröffnung der Courtauld Gallery nach jahrelangen Umbauarbeiten zu einer Serie von Ausstellungen, mit denen Zeichnungen wieder ins Zentrum der Galerie und ihres Programms gestellt werden sollten.

Diese Ausstellung vereinte 60 Zeichnungen von Frauen – aus einem Gesamtœuvre von rund 1300 Zeichnungen – Johann Heinrich Füsslis, die nicht als Entwürfe für seine eigenwilligen, Aufsehen erregenden Gemälde dienten, mit denen er an der Royal Academy in London zu Ansehen gelangte, sondern um Werke, die er laut den Ausstellungsmachern wohl für private Zwecke schuf.

Diese 60 Zeichnungen entstanden ab 1788. Am 30. Juli jenen Jahres hatte der damals 47-jährige Johann Heinrich Füssli die über 20 Jahre jüngere Sophia Rawlins (1762/63–1832), geheiratet, die ihm und anderen Künstlern zuvor als Modell gedient hatte.

Davis H. Solkin bemerkt in einem seiner Katalogbeiträge, dass der Künstler allein von seiner Frau über 40 Zeichnungen schuf, die überwiegend aus den ersten zwölf Jahren seiner Ehe stammen. Laut Solkin deuten visuelle Anhaltspunkte darauf hin, dass es das Haar seiner weiblichen Modelle war, dem Füsslis grösste Aufmerksamkeit galt. Die extravaganten Frisuren entstanden in stundenlangen Sitzungen, wobei manche Frisuren lebensnah sind, andere ins Fantastische gesteigert wurden, sodass sich laut Solkin nicht genau sagen lässt, wo die Wirklichkeit aufhört und die Fiktion beginnt.

Mechthild Fend spekuliert, dass Sophia Füssli ihr Haar auf eine höchst originelle Weise zurechtmachte, um ihre eigene Kreativität zum Ausdruck zu bringen und zugleich Füssli in seiner Kunst zu unterstützen. Solkin schreibt, einige von Sophia Füsslis Ideen zum Frisieren des Haars waren zweifellos von Modeillustrationen angeregt, andere Frisuren vermutlich von ihrem Mann vorgeschlagen, der aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse im Bereich der Kunstgeschichte über ein enormes Repertoire an Vorbildern verfügte, an denen Sophia sich orientieren konnte. Zu den Inspirationsquellen gehörten zum Beispiel antike römische Porträtbüsten.

Ernst Vegelin van Claerbergen, der Leiter der Courtauld Gallery, bemerkt zu den Zeichnungen von Frauen im Vorwort des Katalogs, dass es sich dabei um freizügige, bisweilen den Konventionen zuwiderlaufende Arbeiten handelt, in denen Frauen häufig mit aufwendigem Kopfschmuck und in unkonventionellen Posen präsentiert werden. Sie können als Ausdruck einer individuellen gedanklichen Beschäftigung gesehen werden und zugleich als Reaktion auf breiter gefasste soziale Themen, insbesondere was Ängste hinsichtlich der Geschlechterrollen und der zunehmenden Bedeutung von Frauen als aktiven Teilnehmerinnen an der Kultur betrifft.

In London wurde Fuseli and the Modern Woman: Fashion, Fantasy, Fetishism im Somerset House, in den heutigen Ausstellungsräumen der Courtauld Gallery gezeigt. Das Somerset House war zu Johann Heinrich Füsslis Lebzeiten der Sitz der Royal Academy of Art, an der er ab 1799 als Professor für Malerei wirkte.

Ann Demeester, die Direktorin des Kunsthauses Zürich, verweist in ihrem Katalogvorwort zurecht darauf hin, dass Johann Heinrich Füssli als «Grandmaster Flash» der wilden Vorstellungskraft, der ausgefallenen Träume, der übernatürlichen Fantasien und als begnadeter «Ersatzvater» der Surrealisten bezeichnet wird.

Der aus Zürich stammende, in London zu internationalem Ruhm gelangte Künstler wurde in seiner Geburtsstag zuletzt 2005/06 mit der Schau Füssli. The Wild Swiss geehrt, die ebenfalls in Zusammenarbeit mit London entstanden war. Während die damalige Ausstellung das integrale Panorama seines Schaffens inklusive der Gemälde zu präsentieren versuchte, fokussierte sich Füssli: Mode – Fetisch – Fantasie wie erwähnt ganz bewusst allein auf die Kunst des begnadeten Zeichners Füssli.

Der Zürcher verstand es, im relativ intimen Medium der Zeichnung zu brillieren. Ann Demester unterstreicht, dass Johann Heinrich Füssli mit geradezu obsessiver Energie die Erkundung und Darstellung des weiblichen Gegenübers in ebenso ausgefallener wie aufwendiger Kostümierung und Haartracht verfolgte, wobei sich gerade hier Füsslis Interesse an sexueller Symbolik und dem weiblichen Erscheinungsbild offenbart habe. Diese erotisch aufgeladenen, bisweilen bizarren und aus heutiger Sicht sogar unangemessenen Werke grenzten nicht selten an das Pornografische, demonstrierten die hohe zeichnerische Kunstfertigkeit des Künstlers und gewährten gleichzeitig einen noch nie dagewesenen Einblick in seine Psyche.

Laut Ann Demester geht es dem Kurator David H. Solkin nicht nur darum, die Stellung der Frau im gesellschaftlichen Gefüge des späten 18. Jahrhunderts und die damaligen Tendenzen der Mode zu präsentieren, sondern die Schau und der Katalog zeigten zudem, wie Füsslis fantastische und manchmal verquere Frauenbilder auf Fetischismus hindeuten. Seine zeichnerischen Arbeiten seien zugleich prägend für sein Gesamtwerk gewesen.

Der Katalog enthält Beiträge zu Füsslis Frauen in ihrer Zeit (David H.. Solkin), zu Fetischismus, Künstlichkeit und Zurschaustellung (Mechthild Fend), zu Füsslis Rang als Zeichner (Jonas Beyer), zu Füsslis Leidenschaft für die Zeichnung (Ketty Gottardo), mit technischen Analysen (Kate Edmondson), zur Medusa, zur anderen Seite der Venus und zu gefährlichen Liebschaften (David H. Solkin).

Wer sich über Johann Heinrich Füsslis Frauenfantasien, Fetischismus, tief sitzende Ängste und Begehren von Männern und anderes einlässt, hätte der Erkundung des Frauenbildes vielleicht eine des Männerbildes gegenübersetzen sollen. Was in jedem Fall jenseits allerlei Analyse und Psychologisierung bleibt, ist die grosse Kunst von Johann Heinrich Füssli.

Füssli: Mode – Fetisch – Fantasie. Mit Beiträgen von David H. Solkin, Jonas Beyer, Mechthild Fend und Ketty Gottardo. Verlag Scheidegger & Spiess, 2023, 168 Seiten, 145 farbige und 5 s/w-Abbildungen, 21.5 x 26 cm. Den Katalog bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Füssli: Mode – Fetisch – Fantasie (Amazon.de) sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 1. Juni 2023 um 15:50 deutscher Zeit.