Malcolm Boyd: Johann Sebastian Bach

Mai 15, 2000 at 00:00 473

Malcolm Boyds bei DVA mit einem Vorwort von Friedrich Fischer-Dieskau wiederaufgelegte Biographie aus dem Jahr 1983 widmet sich abwechselnd Leben und Werk von Johann Sebastian Bach. Der Autor geht ausführlich auf die Musikerdynastie der Bachs ein, die in jener Zeit nichts Ungewöhnliches war, wie sein Verweis auf die Scarlattis in Italien, die Couperins in Frankreich und die Purcells in England, um nur die herausragendsten zu nennen, beweist.

Gemäss Boyd brauchte der 1685 in Eisenach geborene Bach „ein Fenster, das ihm den Blick auf neue Horizonte freigab, und einen Katalysator, der ihm bei der Ausbildung seines Reifestils behilflich sein konnte. Weimar wurde ihm das Fenster; Vivaldi und der Stil des modernen italienischen Konzerts waren der Katalysator.“

Auf Weimar (1708-17) folgte Köthen (1717-1723) als weitere Station in Bachs Karriere. Die hundert Kilometer nördlich von Weimar gelegene Stadt war seit 1603 die Residenz des Fürsten von Anhalt-Köthen. Fürst Lepold war ein guter Violonist, Gambist und Cellist, der zudem „einen guten Bass“ sang. Doch nach seiner Heirat im Dezember 1721 zeigte sich rasch, dass die neue Fürstin „die Begeisterung ihres Mannes für Musik nicht teilte und überhaupt allen künstlerischen Dingen eher gleichgültig gegenüberstand: sie war eine ‚amusa‘, wie Bach es später seinem Freund Georg Erdmann gegenüber ausdrückte.“ Ein halbes Jahr nach der Heirat starb Fürst Leopold und den Kantor Bach zog es bald weiter nach Leipzig, wo er die nächsten 26 Jahre bis zu seinem Tod tätig sein sollte. Nur Dresden war in Sachsen noch bedeutender als die Universitäts- und Handelsstadt Leipzig. Die 1409 gegründete Leipziger Universität gehörte zu den bedeutendsten und fortschrittlichsten in Deutschland. Die Vorrangstellung Leipzigs als Verlags- und Buchhandelsstadt war unbestritten.

Die zeitgenössischen Quellen sagen nichts über Bachs Einstellung zu religiösen Fragen oder philosophischen Kontroversen seiner Zeit. Der Charakter des Komponisten tritt dagegen in seinen Auseinandersetzungen mit seinen Arbeitgebern sowie seinen Choristen hervor: Entschlossenheit, die „sich leicht zum Eigensinn verhärtete, wenn er ein Ziel nicht errreichte.“

Boyd teilt Bachs Entwicklung in drei stilistische Perioden ein: die Lehrjahre bis 1713, die Meisterjahre bis 1739/40 sowie die Vollendung bis zu seinem Tod im Jahr 1750. Bis 1713 schrieb Bach vor allem Orgel- und Klavierwerke sowie „ein paar Kantanten“. In der zweiten Stilperiode in Weimar kam er mit der modernsten italienischen Musik, besonders mit dem Concerto, in Berührung: „klare Melodik und prägnante Rhythmik, dazu ein neues Bewusstsein für tonartliche Abläufe und ihre Hintergründe, besonders für die Bedeutung der Kadenzen. Bach vermischte dies mit der Nüchternheit des lutherischen Chorals, mit reichem Mittelstimmensatz und er mehr im Norden beheimateten Vorliebe für strenge Kontrapunktik. Das Ergebnis war ein unmissverständlich individueller Stil, der in jeder musikalischen Gattung zum Klingen gebracht werden konnte […].“ Im Spätwerk schliesslich scheint wie bei Beethovens letzten Werken die Musik „die Bewusstseinssphäre des Menschen“ zu übersteigen.

Bei der Gegenüberstellung der beiden „Grossmeister des Spätbarocks“ kommt Boyd zum Schluss, dass die Musik der zwei nur wenig Gemeinsames hatte: „Händel glänzte in Gattungen, die man in Bachs Gesamtwerk nicht findet (Oper, Oratorium und Konzerte in der Form Corellis); Bach dagegen schrieb seine grössten Werke in den Gattungen, die Händel nicht pflegte (Kirchenkantate, Passionsoratorium, Messe und Konzerte in der Form Vivaldis). Weltliche Musik bildete in ähnlicher Weise einen Mittelpunkt für Händels Schaffen wie für Bach die geistliche.“ Händels Musik war „in grossen Dimensionen ausgeführt, vokal gedacht, melodiereich und im Innersten italienisch; Bachs Musik dagegen zeigt bis in Detail handwerkliche Sorgfalt, ist instrumental gedacht, an Kontrapunkt orientiert und unmissverständlich deutsch.“ Zudem ist Bachs Musik von grösserer technischer Schwierigkeit – schwieriger als die „irgendeines anderen Komponisten im 18. Jahrhundert“.

Die gedankliche und technische Dichte von Bachs Werk verhinderte allerdings auch die Weiterverbreitung seiner Musik zu seinen Lebzeiten. Zu jenen, die ihn schätzten, gehörten Mozart und Beethoven, und „als Beethoven 1827 starb, hatte Bach im deutschen Bewusstsein als unsterblicher Musiker neben Händel, Haydn und Mozart seinen festen Platz eingenommen […].“

Boyds Biographie beleuchtet neben Bachs Leben vor allem sein Werk: die frühen Kompositionen, die Orgelwerke (Choräle, Präludien, Fugen, weitere Orgelwerke), die Werke für Orchester, Kammerbesetzung und Klavier, die Leipziger Kirchenmusik (Kantaten, Motetten, „Magnificat“, Passionen), die Oratorien und Messen, die Cembalokonzerte und „Clavier-Übungen“ sowie die Kanons und Kontrapunkte. Vor allem in dieser Hinsicht bietet Boyds Arbeit eine ideale Ergänzung zu Wolffs Bach, wobei auch die rein biographischen Kapitel lesenswert bleiben.

Die Bach-Biografie von Malcolm Boyd Johann Sebastian Bach erschien erstmals im Jahr 1983. 2000 wurde das 375-seitige Buch zu Leben und Werk von Bach bei DVA wiederaufgelegt mit einem Vorwort von Dietrich Fischer-Dieskau. Bestellen bei Amazon.de.

Siehe auch den Artikel zur Bach-Biografie von Christoph Wolff.

Dieser Artikel erschien in cosmopolis.ch Nr. 15, 15. Mai/14. Juni 2000.