Max Ernst und die Natur als Erfindung

Dez 21, 2022 at 18:51 789

Der Katalog (Amazon.de) und die Ausstellung Max Ernst und die Natur als Erfindung im Kunstmuseum Bonn vom 13. Oktober 2022 bis am 22. Januar 2023 zeigt mit rund 220 Bildern von Max Ernst und 25 weiteren Künstlerinnen und Künstlern das Werk Max Ernsts als Entwurf einer alternativen Naturgeschichte im Kontext der Kunst seiner Zeit bis in die Gegenwart.

Volker Adolphs, Gabriele Wix, Nicole Hartje-Grave und Anna Niehoff steuern im Katalog Essays zur Vertiefung verschiedener Themen bei, so zur Flora und Fauna im Werk von Max Ernst, zur Beziehung zwischen Max Ernst und Hans Arp und ihren visionären Naturbildern, zur alternativen Naturgeschichte Max Ernsts. Kurzbiografien der 26 Künstlern runden den Band ab.

Volker Adolphs schreibt, der künstlerische Kosmos von Max Ernst sei nicht denkbar ohne den Kosmos der Natur, der die Fantasie des Künstlers dauerhaft provoziert und inspiriert habe. Die sich stetig entwickelnde Natur mit ihrem unerschöpflichen Arsenal der Formen stimme mit der Haltung Max Ernsts überein, dass Kunst keine Festlegung und keine Grenzen sucht, dass der Künstler sich selbst nicht finden darf und daher auf seinen Expeditionen auch die Natur als nicht begrenzbaren Raum des Möglichen erfasst. Laut Max Ernst soll Kunst nicht Natur werden, sondern sich als autonome Realität gerade in der artistischen Differenz zur Natur bestimmen.

Laut Volker Adolphs bediente sich der Künstler vorgefundener widersprüchlicher Elemente der Realität. Aus ihrer Kombination und Transformation durch Techniken wie Collage, Frottage, Grattage und Décalcomanie habe Max Ernst ein paralleles surreales Universum erfunden, das in seiner visuellen Genauigkeit die gleiche Wahrscheinlichkeit und Überzeugungskraft besitze wie die »Natur«.

Max Ernst schuf öde Landschaften, dunkle Wälder, in denen das Unbekannte lauert, Mischkreaturen, Baumwesen, schlangenköpfige Figuren, die sich zu Nashörnern und Pferden stilisieren, allerlei Vögel, wobei »Loplop« das Selbstbildnis des Künstlers ist. Zwischen der Fauna und Flora findet sich der Mensch, laut Volker Adolphs vorzugsweise als Eva dargestellt.

Die Arbeiten von Max Ernst werden mit solchen von Hans Arp, Paul Klee, Joan Miró, Richard Oelze, Yves Tanguy, Wols, Tacita Dean, Fischli/Weiss, Tamara Grcic, Rebecca Horn, Hartmut Neumann, Nanne Meyer, Sigmar Polke, Dieter Roth, Thomas Ruff, Eva-Maria Schön und anderen Künstlern in Verbindung gesetzt, wobei es weder um die Nachfolge des Werks von Max Ernst noch um ökologische Debatten zur Zerstörung und Verwertung der Natur geht, sondern laut Volker Adolphs um die grundsätzliche Befragung der Beziehung von Kunst und Natur. Gerade die Kunst sei das geeignete Medium, um der Natur als einem entzauberten Gegenstand der Forschung und des Konsums Überraschung, Irritation und Geheimnis zurückzugeben.

Laut Volker Adolphs bietet das Mappenwerk Histoire naturelle von Max Ernst mit 34 Frottagen, die er aus der Folge von 1925 entstandenen Frottagen auswählte und die 1926 bei Jeanne Bucher in Paris als Lichtdrucke erschienen, eine freie Paraphrasierung der Genesis an. Der Künstler ordnete die Werke als Schöpfungsgeschichte an, was sein Spiel freier Aneignungen tradierter Bilderzählungen dokumentiere, die er zugleich entschieden unterlaufe.

Im 1934 veröffentlichten Text »Was ist Surrealismus?« deklariert Max Ernst die Idee künstlerischer Schöpfung als überholten Mythos. Dessen finalen Exorzismus stellt er als Leistung des Surrealismus hin. Laut Volker Adolphs ersetzt Max Ernst den alten durch einen neuen gegenteiligen Mythos vom Künstler als willenlosem Empfänger von Eingebungen, der Fundstücke aus seinem Inneren zutage fördere. Damit trete Max Ernsts Naturgeschichte als eine innere Naturgeschichte auf, als Folge von Bildern, die nicht Dokumente äusserer Beobachtung seien, sondern die der Künstler in sich sehe, aus den Tiefen des Unterbewussten nach aussen transportiert und ins Sichtbare objektiviere.

In ihrem Katalogbeitrag schreibt Gabriele Wix unter anderem, dass Max Ernst, 1891 in Brühl geboren, in Deutschland weitgehend als deutscher Künstler betrachtet werde. Der Künstler nahm 1948 die amerikanische Staatsangehörigkeit an, 1958 die französische. Max Ernst habe seit den 1920er-Jahren überwiegend auf Französisch geschrieben und erst mit den 1950er-/1960er-Jahren begonnen, einige frühere Essays und Gedichte ins Deutsche zu übertragen und neue auf Deutsch zu verfassen. Viele seiner Bildtitel und Texte seien nur auf Französisch und, während seiner Zeit in den USA, auf Englisch erschienen. Dieses Wandern zwischen den Sprachen habe Max Ernst produktiv zu nutzen gewusst, wie er überhaupt das Wort gleichrangig neben dem Bild gesehen habe.

Nicole Hartje-Grave schreibt in ihrem Katalog-Essay unter anderem, im Unterschied zu Max Ernst habe der Kunst von Hans Arp immer das Prozesshafte innegewohnt. Für ihn seien vor allem seine Skulpturen nie vollendet gewesen; vielmehr habe er nach Weiterentwicklung und Variation gestrebt – eine Eigenart, die sein Freund Max Ernst so nicht verfolgt habe. Beiden Künstlern gemein sei jedoch die Tatsache, dass sie sich auf keine der bekannten Kunstrichtungen festlegen liessen und sich keiner Künstlergruppe bedingungslos anschlossen hätten. Beide seien höchst individuelle Künstlerpersönlichkeiten gewesen.

Dies sind nur einige Ausschnitte aus dem von Volker Adolphs herausgebenen Buch: Max Ernst und die Natur als Erfindung. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Bonn, Wienand Verlag, 2022, 272 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Ausstellung im Kunstmuseum Bonn vom 13. Oktober 2022 bis am 22. Januar 2023.

Siehe zudem die Rezension zum Buch von Werner Spies: Max Ernst und die Geburt des Surrealismus.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Max Ernst und die Natur als Erfindung (Amazon.de) sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 21. Dezember 2022 um 18:51 deutscher Zeit. Zuletzt aufdatiert um 20:44.