Diego Giacometti

Juli 21, 2025 at 09:41 640

Seit dem 28. Juni und noch bis zum 9. November 2025 zeigt das Bündner Kunstmuseum Chur die Ausstellung Diego Giacometti. Diese entstand in Zusammenarbeit mit dem Nachlass des Künstlers und dem Musée des Arts Décoratifs in Paris, das nach dem Tod des Künstlers über 500 seiner Werke erhielt.

Der gleichnamige, zur Ausstellung erschienene Katalog stellt die erste Gesamtdarstellung deutscher Sprache von Leben und Werk Diego Giacomettis (1902–1985) dar, der sich laut den Ausstellungsmachern gekonnt zwischen angewandten Arbeiten und freier Kunst bewegte.

Der Katalog, herausgegeben von Stephan Kunz und Casimiro Di Crescenzo: Diego Giacometti. Verlag Scheidegger & Spiess, 2025, broschiert, 308 Seiten mit 200 farbigen und 39 s/w-Abbildungen, 21 x 28 cm. ISBN 978-3-03942-301-9. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch zur Ausstellung bestellen bei Amazon.de.

Bereits 1987 erschien bei Harry N. Abrams das (dt. und frz.) Buch Diego Giacometti von Daniel Marchesseau. Dieser hatte diese bis heute massgebliche Monografie bereits 1984 in Angriff genommen, in Zusammenarbeit mit dem Künstler, und im Zusammenhang mit der ersten Diego Giacometti-Retrospektive im Pariser Musée des Arts décoratifs (19. Februar bis 13. April 1986), kuratiert von Daniel Marchesseau, François Mathey und schliesslich von Yvonne Bruhammer. Diego Giacometti verstarb leider bereits am 15. Juli 1985 unerwartet an einer Embolie, Monate vor der Eröffnung der Retrospektive und lange vor der Publizierung der Monografie.

Daniel Marchesseau: Diego Giacometti. Harry N. Abrams, 1987 (frz. und engl.).  ISBN-10: ‎ 0810909987. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.

Diego steht bis heute beim grossen Publikum nach wie vor im Schatten seines älteren, berühmteren Bruders Alberto Giacometti (1901-1966), auch wenn seine Arbeiten bei Auktionen regelmässig Preise von weit über einer Million Euro erzielen. Am 3. Dezember 2024 erzielte bei Christie’s das um 1976 entstandene Werk Console ‚Promenade des Amis‘ (eine von mehreren Varianten der Konsole, patinierte Bronze und Glas, 88 x 121 x 35 cm) von Diego Giacometti stolze €9,48 Millionen, bei einer Schätzung, die zwischen €1,5 und €2 Millionen lag.

Im Katalogbeitrag von Casimiro Di Crescenzo zur Biografie von Diego Giacometti ist unter anderem zu lesen, dass Diego sowohl für seinen Vater Giovanni als auch für seinen älteren Bruder Alberto, mit dem er ab 1925 in Paris zusammenlebte, posierte. Diego war jahrelang Albertos treuer Assistent und Mitarbeiter, der sich um alle praktischen Belange der Arbeit kümmerte, sodass sich Alberto ganz auf das künstlerische Schaffen konzentrieren konnte.

Doch anders als Alberto, den es von Anfang an zur Kunst drängte, studierte Diego ab August 1919 in Basel an einer Wirtschaftsschule. Laut Casimiro Di Crescenzo wurde es dem jungen Mann dort bewusst, dass er gut aussah. Er habe sich mit einer gewissen Eleganz gekleidet. Doch beruflich blieb er lange orientierungslos. Im November 1920 beendete er die Schule in Basel, kehrte kurz nach Hause nach Stampa zurück. Im Dezember war er wieder in Basel mit der Aussicht, eine Stelle bei einer Bank zu bekommen, was sich allerdings bald zerschlug. Ende Januar 1921 war er in Chiasso in einer Speditionsfiliale angestellt. Er blieb dort bis Juli. Im August kehrte er erneut zurück nach Basel. Den September verbrachte er in Maloja, wo er sich der militärischen Tauglichkeitsabklärung unterzog, woraufhin er der Gebirgsartillerie zugeteilt wurd. Von Ende November 1922 bis Mai 1923 lebte er in Marseille als Gast seines Cousins Cornelio Giacometti, der ihm eine nicht näher bezeichnete Stelle in der Usine Charles Dubois vermittelt hatte. Im August leistete er seinen Militärdienst in Frauenfeld ab. Im Dezember wurde er vom Militär beurlaubt und verbrachte die Weihnachtsferien im Elternhaus in Stampa. Er zeichnete und fand Gefallen an Radierungen. Im Februar 1924 meldete er sich für einen Kurs an der Handelsschule in St. Gallen an, brach diesen jedoch nach wenigen Wochen ab. Im April verbrachte er die Osterferien in Stampa. Danach ging es nach Sitten zum Militärdienst. Im August wurde er nach Obersaxen versetzt und bleib dort bis Oktober.

Die Eltern machten sich Sorgen um Diego, der anders als seine Geschwister nicht zu wissen schien, was er wollte. Laut Casimiro Di Crescenzo war es der Vater Giovanni, der auf die Idee kam, Diego zu seinem Bruder nach Paris zu senden. Kurz vor den Weihnachtstagen 1924 habe sich Diego dieses Vorhaben zu eigen gemacht. In einem Brief vom 4. Januar 1925 schrieb die Mutter Annetta an Alberto: «Ich bitte dich nachdrücklich, ein guter Mentor für Diego zu sein».

Der jüngere Bruder kam am 8. Februar 1925 in Paris an, wo Alberto am Bahnhof auf ihn wartete. Diego arbeitete in Paris zuerst in einem Büro, dann als Handelsvertreter für eine Fabrik. Ermutigt durch Alberto, widmete sich Diego 1928 und 1929 der Malerei. Doch diese Versuche blieben laut Casimiro Di Crescenzo sporadisch. 1928 versuchte Diego zusammen mit einem Freund, in Venedig gekaufte Schals und Spitzen in Paris zu verkaufen. Die zwei reisten sogar nach Ägypten, konnten dort jedoch keine Geschäfte abschliessen. Im Oktober 1929 erhielt Diego ein Stellenangebot von der Cadillac Corporation in Basel, für die er als Handelsvertreter für Landwirtschafts- und Industriemaschinen eingestellt wurde. Derweil machte Alberto in Paris Karriere, wo er zum gefragten Künstler aufstieg. Er erhielt so viele Aufträge, dass er am 28. Oktober 1929 Diego um Hilfe bat. Dieser reiste im Dezember 1929 nach Paris, wo er zuerst jahrelang zusammen mit seinem Bruder in dessen Atelier wohnte, ehe er 1936 eine Mietwohnung nahm.

Was folgte, war  die oben erwähnte Karriere als Assistent des Bruders. Daneben war Diego Künstler, bezeichnete sich selbstbescheiden jedoch einfach als «Handwerker». Schon ab 1932 und zunehmend ab 1945 stellte er elegante und hochgeschätzte Dekorationsgegenstände her: Stühle, Möbel, Lampen und Wohnaccessoires.

Casimir Di Crescenzo zeigt, dass Diegos vielgestaltiges, elegantes, märchenhaftes künstlerisches Œuvre frühe Wurzeln hat, die bis ins Jahr 1931 zurückreichen. Dazu gehören die Marmorskulptur Lionne (Bronze mit Patina, ca. 1931, Ex . 1/2, 16 x 41 x 9 cm, Privatsammlung), die bisher auf das Jahr 1935 datiert wurde, sowie weitere Marmor- und Steinskulpturen.

Diego Di Crescenzo widmet dem Künstler Diego Giacometti ein Unterkapitel zu den Jahren 1949 bis 1969. Seine eigenständige kommerzielle Erfolgsgeschichte begann allerdings erst nach dem Tod von Alberto im Jahr 1966. Die Abbildungen im Katalog zur Ausstellung im Bündner Kunstmuseum in Chur zeigen zum einen bislang nicht publizierte frühe Arbeiten, die die Basis seines späteren Werks bilden. Zum anderen werden seine Möbelentwürfe präsentiert sowie Bauteile, aus denen er seine Objekte fertigte. Sie bieten Einblicke in den Schaffensprozess des Künstlers.

Wenn Stephan Kunz im Katalog schreibt, die Zeit sei reif, das Werk von Diego Giacometti in einem Kunstmuseum auszustellen und als eigenständiges künstlerisches Werk zu entdecken, dann liegt er vielleicht bezüglich der grossen Masse der Kunstfreunde richtig, doch, wie oben erwähnt, haben die Sammler schon lange den Wert von Diegos Arbeiten erkannt, waren und sind bereit, Millionenbeträge für seine Werke zu bezahlen.

Laut Stephan Kunz haben die Diego Giacometti-Ausstellungen 2007 im auf kulturhistorische Ausstellungen spezialisierten Gelben Haus in Flims sowie 2023 in der Fondazione Luigi Rovati in Mailand, wo seine Arbeiten zusammen mit etruskischer Kunst zu sehen waren, deutlich gemacht, dass der Künstler neu als solcher, nicht mehr nur als schöpferischer Handwerker betrachtet werde. Bereits die Titel der Ausstellungen bezeugten eine neue Rezeption seines Werks: Diego tritt aus dem Schatten (Flims) und Diego – l’oltre Giacometti (Mailand).

Stephan Kunz verweist selbst auf den internationalen Kunsthandel und die hohen Preise für Diegos Werke auf dem Kunstmarkt. Er erwähnt zudem, dass bereits in den 1930er-Jahren Alberto und Diego Giacometti im Auftrag von Jean-Michel Frank (1895–1941), dem bekannten Möbeldesigner und Inneneinrichter, luxuriöse Objekte hergestellt hatten, die besondere Anerkennung fanden. Als Diego nach dem Zweiten Weltkrieg die Produktion alleine übernommen habe, hätten sich schnell weitere Sammlerinnen und Sammler gefunden. Parallel dazu habe Diego damals begonnen, eigene künstlerische Arbeiten zu schaffen und ab Mitte der 1950er-Jahren habe die Entwicklung seiner charakteristischen Stühle, Tische, Wandleuchten, Kerzenständer, Kaminböcke, Türgriffe und anderer gestalterischer Elemente eingesetzt, für die er bekannt und geschätzt worden sei.

Die rege Nachfrage, die er gar nicht vollständig befriedigen konnte, habe seine Kreativität nicht gelähmt, sondern vielmehr zu neuen Schöpfungen angeregt. In der individuellen Ausführung liege die kreative Arbeit von Diego. Stephan Kunz unterstreicht, dass sich Diego Giacometti mit seinem Werk an der Grenze zwischen freier und angewandter Kunst bewegte, sei nie in Frage gestanden. Wer sich mit seinen Möbeln umgebe, wisse, dass dass ein Salon-Tisch von ihm nicht nur ein praktisches Möbel sei, sondern immer auch als Skulptur im Raum stehe. Seine umfassenderen Einrichtungen mit Treppengeländern, Bibliotheken und Beleuchtungskörpern gingen in Richtung von Gesamtkunstwerken. Im «Mas Bernard», dem Familienhaus der Maeghts in Südfrankreich, seien die Gestaltungsaufträge noch weiter gegangen und schliesslich 1964 in die Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence gemündet, wo Architektur und Kunst eine Einheit bildeten und ortsspezifische Arbeiten von Joan Miró und Georges Braque neben einem von Diego eingerichteten Café zu liegen kamen und die vermeintlich angewandte Kunst mehr als nur Rahmen für die grossartige Sammlung der Kunst des 20. Jahrhunderts bildete, sondern zum integralen Bestandteil des Ganzen werde und den besonderen Charakter dieses Kunstortes präge. Diego Giacometti erscheine hier als einer der Grossen, neben Pierre Bonnard, Alexander Calder, Fernand Léger, Marc Chagall, Wassily Kandinsky, Henri Matisse und natürlich Alberto Giacometti.

Stephan Kunz hebt hervor, dass Diegos Weg in die Kunstmuseen dennoch lang und nicht geradlinig gewesen sei. Berührungsängste mussten abgebaut werden, um seine Stühle, Tische, Lampen oder Kaminböcke als plastische Werke zu zeigen und sie unter anderer Perspektive zu betrachten. Es brauche die Offenheit der Kunst gegenüber gestalterischen Fragen aus anderen Lebensbereichen. Die Grenzen seien heute fliessend. Das wirke bereichernd.

Stephan Kunz schreibt, dass der nach Alberto in Paris angekommene Diego ein ausgesprochen zurückgezogenes Leben führte und dieses ganz in den Dienst seines erfolgreichen Bruders gestellt habe. Das Verdienst von Casimiro Di Crescenzo sei es, für die Ausstellung in Chur neue Quellen ausfindig gemacht und weitere Eckpunkte zu Diegos Lebensgeschichte zusammengetragen zu haben. Dazu gehöre die Aufarbeitung der Werkentwicklung, die mit den überlieferten Vorstellungen aufräume, dass Diego erst nach dem Tod von Alberto Giacometti seine eigene künstlerische Arbeit entwickelt habe. Viele seiner Arbeiten der 1970er-Jahren seien schon früher entwickelt und ausgeführt worden. Einzelne freie künstlerische Arbeiten Diegos entstanden bereits in den 1930er und 1940er-Jahren. Davon seien leider nur wenige erhalten. Zu ihnen gehöre vor allem Tète de lion (Löwenkopf) aus dem Jahr 1934, das sich heute in der Alberto Giacometti-Stiftung im Kunsthaus Zürich befindet. Weitere Werke seien aufgetaucht oder konnten eindeutig in diese frühe Jahre atiert werden. Dazu gehöre die Wiederentdeckung der Arbeit Vogel (Oiseau; Gips, Draht und Fasermasse, 37 x 32.5 x 26 cm, Privatsammlung) von 1942, die Diego für seinen Freund Francis Gruber geschaffen habe und die lange als verschollen gegolten habe.

Ein späterer Höhepunkt in der Karriere von Diego Giacometti kam, als er den Auftrag zur dekorativen Gestaltung des Musée Picasso in Paris (heute: Musée national Picasso-Paris) erhielt. Einen ersten Kontakt dazu gab es 1981. In den Folgejahren widmete er sich laut Casimir di Crescenzo mit all seiner Energie dieser Aufgabe. Leider verstarb Diego 1985 kurz vor der Eröffnung des Museums, dessen dekorative Elemente wie Kronleuchter, Bänke, Stühle und Tisch von ihm speziell für das Musée Picasso entworfen worden waren.

Stephan Kunz hebt am Ende seines Katalogbeitrages hervor, das Diego Giacometti als Handwerker wenig von der seriellen Produktion hielt, die das Design im 20. Jahrhundert prägte. Er habe für sich einen Weg gefunden, ein stetig wachsendes Sortiment an Formen und Elementen als Potential zu nützen, um in einer eigenen Kombinatorik eine unermessliche Fülle an Variationen zu schaffen. Dies wird in der Ausstellung gezeigt, die mehr als nur eine Übersicht über bedeutende Arbeiten bietet, sondern einen Einblick in das künstlerische Universum von Diego Giacometti eröffnet. Der Weg ins Bündner Kunstmuseum Chur lohnt sich wieder einmal. Ebenso ein Blick in den Katalog, der natürlich viel mehr Details enthält als dieser Artikel, der sich weitgehend auf die frühen Jahre Diegos beschränkt.

Der Katalog, herausgegeben von Stephan Kunz und Casimiro Di Crescenzo: Diego Giacometti. Verlag Scheidegger & Spiess, 2025, broschiert, 308 Seiten mit 200 farbigen und 39 s/w-Abbildungen, 21 x 28 cm. ISBN 978-3-03942-301-9. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch zur Ausstellung bestellen bei Amazon.de.

Das Buchcover ziert ein Foto des Porte manteau (Kleiderhaken), o . J . Bronze, 26 x 17.5 cm, von Diego Giacometti, das aus der Sammlung des Pariser Musée des Arts décoratifs stammt.

Siehe zu Diego Giacometti auch die Artikel zur Kronenhalle und zur Bar der Kronenhalle in Zürich.

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Rezension/Katalogkritik/Ausstellungskritik vom 21. Juli 2025 um 09:41 Schweizer Zeit.