Endlich ist es da, das Buch von Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen. Darin beschreibt der ins Exil Vertriebene seinen künstlerischen Werdegang vor dem Hintergrund seiner Familiengeschichte und der Geschichte Chinas.
Ai Weiwei wurde 1957 in der chinesischen Hauptstadt Peking geboren. Sein Vater Ai Qing war damals 47 Jahre alt, einst ein enger Vertrauter Mao Zedongs und ein führender Schriftsteller in China. Im Zuge der Kulturrevolution viel er in Ungnade. 1957 entfesselte Mao die Kampagne gegen Rechtsabweichler. Ai Qing wurde zu Zwangsarbeit verurteilt. Nach einer leichten Lockerung einige Jahre lang kam es 1967 erneut zu einer Verschärfung der Strafe, und die Verbannung an eine Militärfarm am Rand einer Wüste, weil die Kulturrevolution in eine neue Phase trat und Ai Qing als Urheber bourgeoiser Literatur und Kunst galt. Dabei wurden Ai Weiwei und sein Stiefbruder Gao Jian von Ai Weiweis Mutter getrennt, die es nach 10 Jahren Strafe nicht ertrug, unter noch primitiveren Bedingungen zu leben. Sie reiste mit dem kleinen Bruder Ai Dan nach Beijing. Erst im März 1979 unter Deng Xiaoping wurde Ai Qing rehabilitiert.
Im Lager am Wüstenrand waren viele Mitglieder der stigmatisierten »fünf schwarzen Kategorien«: Grundbesitzer, reiche Bauern, Konterrevolutionäre, schlechte Elemente und Rechtsabweichler. Oder sie waren wie Ai Weiwei Kinder von Mitgliedern der schwarzen Kategorien. Einige waren ehemalige Soldaten, und andere waren junge Menschen, die in ihren Heimatstädten unerwünscht waren, oder Flüchtlinge aus verarmten Regionen im Hinterland Chinas. Hier mussten sie zumindest nicht Hunger leiden, indem sie Ödland bebauten und genügend Produkte ernteten, um sich zu ernähren.
Am Ende des Tages musste dem Vorsitzenden über den Fortschritt der eigenen Arbeit berichtet werden. In der Regel wurden diejenigen, die den fünf schwarzen Kategorien angehörten, nach vorn auf die Bühne gerufen, wo sie reuevoll den Kopf vor dem Publikum unter ihnen senken mussten, denn die Revolution brauchte Feinde. Wenn Ai Weiweis Vater eindeutig anwesend war, schrie der Beamte mit dem Vorsitz immer: »Ist der grosse Rechtsabweichler Ai Qing hier?« Es war Standard, das Adjektiv »gross« vor »Rechtsabweichler« einzuschieben, wenn von Ai Quing die Rede war, in Anbetracht seines Ansehens und Einflusses als Schriftsteller.
In den Jahren der Kulturrevolution gab es praktisch täglich – oder nächtlich – Weisungen des Vorsitzenden Mao, die weitergegeben werden mussten. Der Schreiber der Militärfarm schrieb sie immer Wort für Wort mit, während sie am Telefon vorgelesen wurden, bevor sie auf den abendlichen Versammlungen öffentlich bekannt gegeben wurden.
Ai Weiwei verweist in einem Seitenhieb auf Donald Trumps spätabendliche Tweets, als er noch im Amt war. Sie waren die direkte Vermittlung der Gedanken eines Führers an seine ergebenen Anhänger und förderten so die Heiligkeit seiner Autorität. Im Fall der Chinesen gingen diese Äusserungen noch weiter, da sie absoluten Gehorsam einforderten, und dies jahrelang.
Ai Weiwei schreibt, die Kulturrevolution sei, wurde uns mitgeteilt, »eine tiefere, allgemeinere neue Phase im Aufbau der sozialistischen Revolution«, die eine Revolution sei, »welche die Menschen im Innern ihrer Seele berührt«. Das Ziel sei es, »die Machthaber abzusetzen, die den kapitalistischen Weg einschlugen, die bürgerlichen, akademischen ›Autoritäten‹ zu kritisieren, die Ideologie der Bourgeoisie und aller ausbeuterischen Klassen zu kritisieren, und Bildung, Kultur und alles im Überbau zu reformieren, das nicht der sozialistischen ökonomischen Basis entspricht, um das sozialistische System zu konsolidieren und auszubauen«.
Ich würde hinzufügen, dass Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, ähnliche Propaganda und Durchhalteparolen aus dem Neuen Deutschland und anderen Publikationen kennen. Das Leben in China war nur ungleich härter. Millionen starben. Und bis heute wird Mao als grosser Führer verehrt. Heute wird das Land mit Xi Jinping von einem Ideologen regiert, der auf Einparteienstaat, Propaganda, Kontrolle und Repression setzt, und zudem einen Führerkult betreibt, wie wir ihn seit Mao nicht mehr gesehen haben.
Im zweiten Kapitel beschreibt Ai Weiwei, wie sein Vater in eine Grundbesitzerfamilie mit einem Laden für Sojasosse und einem Gemischtwarenladen, der Importprodukte verkaufte, im Dorf Fantianjiang im Nordosten der damaligen Präfektur Jinhua geboren wurde, ein Teil der Küstenprovinz Zhejiang. Es war eine schwere Geburt. In den Augen der Abergläubischen ein unheilvolles Vorzeichen. Zwölf Tage später, als sich Ai Weiweis Grossmutter so weit erholt hatte, dass sie Besucher empfangen konnte, rief der Grossvater, wie es in solchen Fällen üblich war, einen Wahrsager. Dieser präsentierte eine erschreckende Prophezeiung: Das neugeborene Kind stehe »im Widerspruch« zum Schicksal seiner Eltern, und wenn sie ihn zu Hause aufzögen, wäre der Junge »der Tod seiner Eltern«. Das hiess, dass sich jemand ausserhalb der Familie um das Baby kümmern musste. Der Ernst und die Vorahnung des Wahrsagers trafen Ai Weiweis Grosseltern zutiefst. Seine Deutung der Situation schien so fest und unanfechtbar wie der ganze Hausrat um sie, und seine düstere Prophezeiung wurde wie ein Geburtsmal dem Los des Kindes aufgeprägt.
Gleichzeitig schreibt Ai Weiwei, dass sein Grossvater in seinem Dorf als Reformer galt. Er las eine von einem Engländer gegründete chinesischsprachige Zeitung aus Shanghai ebenso wie Thomas Huxleys Evolution und Ethik las. Er gehörte zu den ersten Männer, die ihren Zopf abschnitten, der in der Qing-Dynastie die Unterwerfung der Han-Chinesen unter die Vorherrschaft der Mandschu symbolisierte. Er erlaubte es den Frauen in der Familie, ihre Füsse nicht zu binden, und schickte seine beiden Töchter zum Unterricht an die christliche Schule einer amerikanischen Missionarin, die mit der American Baptist Foreign Mission Society in Verbindung stand, die zu jener Zeit bereits eine Viertelmillion Anhänger in China hatte. Der Grosvater war Mitglied der Internationalen Sparkassengesellschaft, einer französischen Bank in Shanghai, zu einer Zeit, als es als ziemlich wagemutig galt, die eigenen Ersparnisse einer Bank anzuvertrauen.
Ai Weiwei beschreibt in seinen Erinnerungen die Geschichte Chinas, das Leben seines Grossvaters und Vaters, seine Kindheit in der Verbannung, die schwierige Entscheidung, seine Familie zu verlassen, um in den Vereinigten Staaten Kunst zu studieren, wie er nach seiner Rückkehr ins kommunistische China zum Star der Kunstwelt aufstieg und sich zudem zu einem internationalen Menschenrechtsaktivisten entwickelte, was ihn in Konflikt mit dem Einparteienstaat brachte. Ai Weiwei erläutert, wie das Leben im totalitären China sein Schaffen bestimmte. Seine Erinnerungen geben Einblick in die vielfältigen Kräfte, die das zeitgenössische China geformt haben, und sind zugleich eine Mahnung, die Meinungsfreiheit immer wieder neu zu verteidigen.
Ai Weiwei schreibt am Ende seiner Erinnerungen, dass sich seine Vergangenheit und Gegenwart voneinander gelöst hätten, wie das Skelett eines toten Tiers, dessen Knochen längst nicht mehr von Gewebe zusammengehalten werden. Es falle ihm trotz grösster Bemühungen immer noch schwer, die Gesamtheit seiner Erfahrungen darzustellen. Diese Problematik spiegle sich auch in seiner Kunst.
Ai Weiwei unterstreicht, er werde sich weiterhin für Gerechtigkeit einsetzen, denn diese biete die grösstmögliche Verwirklichung der Interessen des Einzelnen in einem Gruppenkontext. Für ihn wäre es das Schlimmste, die Fähigkeit zur freien Meinungsäusserung zu verlieren, denn das würde bedeuten, die Motivation zu verlieren, den Wert des Lebens zu erkennen und entsprechende Entscheidungen zu treffen.
Im Nachwort geht er auf die Flüchtlingskrisen dieser Welt ein, denen er auf der griechischen Insel Lesbos, in Flüchtlingscamps in der Osttürkei, an der amerikanischen Grenze zu Mexiko und anderswo begegnet ist.
Ai Weiwei schreibt, dass Lesbos ihm half zu begreifen, weshalb er kein vollständiger Mensch sei. Ein Gefühl der Zugehörigkeit sei von zentraler Bedeutung für die eigene Identität, denn nur damit könne man eine geistige Zuflucht finden.
Dies sind nur einige wenige Passagen und Eindrücke aus dem 416-seitigen Buch, das jedermann ans Herz zu legen ist, der sich für Ai Weiwei und das Leben im kommunistischen China interessiert.
Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen. Penguin Verlag, November 2021, 416 Seiten. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
Die »1000 Jahre Freud und Leid« im Titel stammen aus der Zeile eines Gedichtes seines Vaters Ai Quing aus dem Jahr 1980.
Siehe zu Ai Weiwei zudem den englischen Artikel zu Ai Weiwei: Interlacing, die Aussstellung im Fotomuseum Winterthur 2011.
Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension von Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.
Rezension / Buchkritik vom 7. November 2021 um 15:00 deutscher Zeit.