Berliner Philharmoniker, Kirill Gerstein: Rachmaninoff Klavierkonzert Nr. 2

Nov 08, 2023 at 13:28 356

Sergej Rachmaninoff bzw. Rachmaninow (1873-1943) war nicht nur ein begnadeter Komponist, sondern zudem ein bedeutender Dirigent und vor allem einer der besten Pianisten seiner Zeit. Daher hat er sein 1900/01 komponiertes Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 in c-Moll op. 18, das seine Uraufführung am 27. Oktober 1901 in der Philharmonischen Gesellschaft in Moskau erlebte, als Solist auch oft selbst gespielt. Es gibt sogar zwei Aufnahmen aus den Jahren 1924 und 1929 mit Sergej Rachmaninoff am Klavier und dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Leopold Stokowski.

Diese Platten haben nach eigener Aussage den ebenfalls russischen (-amerikanischen) Pianisten Kirill Gerstein (*1973 in Woronesch) bei seiner Einspielung des 2. Klavierkonzertes mit den Berliner Philharmonikern inspiriert (hybrid-SACD bei Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr; wir erhalten eine Kommission).

Im Rahmen des 150. Geburtstages von Sergej Rachmaninoff haben die Berliner Philharmoniker unter ihrem herausragenden Chefdirigenten Kirill Petrenko zusammen mit dem Pianisten Kirill Gerstein am 25. Juni 2022 beim Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Berliner Waldbühne Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll op. 18 für das hauseigene Label des Sinfonieorchesters aufgenommen. Auf dem Album merkt man gar nicht, dass dies eine Aussen-Liveaufnahme ist. „Vom Winde verweht“ kann keine Rede sein. Der Applaus des Publikums und störende Aussengeräusche auf der Waldbühne konnten mittels Aufnahme- und Bearbeitungstechnik entfernt werden. Das Album ist im Oktober 2023 beim hauseigenen Label der Berliner Philharmoniker als hybrid-SACD erschienen: Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr (wir erhalten eine Kommission).

Die Aufnahme ist im Rahmen der 150. Geburtstagsfeier des Komponisten erschienen und heisst daher Rachmaninoff 150. Auf der SACD hat Kirill Gerstein zusätzlich Klaviersolos eingespielt, die laut Aussage des Pianisten einen kleinen Einblick in das Schaffen der verschiedenen Werkperioden von Rachmaninoff geben sollen. Die Auswahl zeigt unterschiedliche künstlerische Standpunkte von Sergey Rachmaninoff, von jugendlichen Frühwerken bis 1931.

Aufgenommen wurden die Solo-Stücke im Grossen Saal der Philharmonie Berlin, darunter die Variationen über ein Thema von Corelli op. 42 von 1931 und Fritz Kreislers Liebesleid aus den Alt-Wiener Tanzweisen von 1921, für Klavier arrangiert von Sergej Rachmaninoff selbst, ein technisch brillantes Zugabe-Salonstück voller kontrapunktischer und virtuoser Ideen. Hinzu kommt Kirill Gersteins Solo-Interpretation von Rachmaninoffs Morceaux de fantaisie op. 3 aus dem Jahr 1892, am 28. Dezember jenen Jahres in Kharkiv uraufgeführt, in einer Stadt, die heute aus traurigem Anlass allen aus den Nachrichten bekannt ist. Kirill Gerstein hat für die SACD zudem aus Sechs Lieder op. 4 von Rachmaninoff das dritte Lied Im Schweigen der geheimnisvolen Nacht aufgenommen, das er selbst arrangiert und am 1. Februar 2023 im Pierre Boulez Saal in Berlin uraufgeführt hat.

Rachmaninoff und die Berliner Philharmoniker

Die Rachmaninoff-Tradition der Berliner Philharmoniker reicht zurück bis ins Jahr 1903. Am 6. März spielte damals das Orchester mit dem Klavierkonzert Nr. 2 in c-Moll erstmals ein Werk des russischen Komponisten. Der Pianist Wassilli Sapellnikoff brillierte unter der Leitung des Dirigenten Josef Rebiček.

Am 23. Januar 1908 gab Rachmaninoff selbst mit diesem Werk unter der Leitung von Serge Koussevitzky sein Debüt als Solist beim Orchester. Bis 1930 folgten drei weitere Auftritte der Pianisten Sergej Rachmaninoff mit den Berliner Philharmonikern. Unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter realisierte er unter anderem die deutsche Erstaufführung seines Vierten Klavierkonzertes.

Die Interpretation auf dem Album Rachmaninoff 150 (Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr) durch Kirill Gerstein am Klavier macht klar, warum das Zweite Klavierkonzert seit seiner Uraufführung ein Publikumsliebling ist: Schwelgen in Spätromantik. Musik liegt im Ohr des Hörers. Die Interpretation des Zweiten Klavierkonzertes als nostalgischer Blick zurück auf die Zeit des untergangenen Zarenreiches kommt erst mit der Revolution und dem Sowjetreich rund zwei Jahrezehnte nach der Fertigstellung der Komposition.

Bereits mit den ersten Takten wird der Hörer emotional Mitgerissen und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen. Das Zweite Klavierkonzert ist nicht nur ein Höhepunkt im Schaffen von Rachmaninoff – nach Jahren der Krise und der Depression -, sondern ein Glanzpunkt der gesamten klassischen Klavierliteratur.

Eine frühe Sicht auf das Werk von Rachmaninoff

Im Booklet ist zu lesen, dass der Komponist einer philosophischen Auslegung musikalischer Werke ablehnend gegenüber stand, dennoch wird der Historiker Mark Steinberg zitiert, der betont, dass die russische Intelligenzija stark von moralischen Werten geprägt war, an die Unantastbarkeit des menschlichen Wesens glaubte und eine Abscheu vor jeder Einschränkung und Unterdrückung der menschlichen Persönlichkeit hegte.

Nach Ansicht der jungen armenisch-russischen Dichterin Marietta Shaginjan waren Sergej Rachmaninows Werke, insbesondere sein Zweites Klavierkonzert, direkte Antworten auf die Bedürfnisse der Zeit. Laut ihrer Interpretation von 1912 lag das wahrhaft »Russische« bei Rachmaninoff darin, dass er sich in seinen Werken für den uneingeschränkten Wert des Individuums aussprach. Unter den politischen Zwängen eines autokratischen und zunehmend nationalistischen Staates war dies ein ebenso politischer wie ästhetischer Anspruch.

Marietta Shaginjan schrieb 1912, dass in Rachmaninows musikalischen Schöpfungen nicht nur die Musik um den Erhalt ihrer kulturellen Identität kämpft, sondern auch der Mensch um die Erhaltung seiner selbst und vor allem um die Bewahrung menschlichen Masses.

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Der Solist Kirill Gerstein am Klavier im Klavierkonzert Nr. 2 von Sergej Rachmaninoff zusammen mit den Berliner Philharmonikern. Photo Copyright © Berliner Philharmoniker.

Rebecca Mitchell schreibt im Booklet (Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr), dass Rachmaninoffs Zweites Klavierkonzert massive Akkorde und überbordende Virtuosität bietet, die vom Können eines meisterhaften Interpreten zeugen, der weiss, was sein Publikum wünscht. In den leidenschaftlichen Melodien klingen von Rachmaninoff geliebte orthodoxe Gesänge an. Im dritten Satz gibt es sogar ein direktes Zitat aus seinem eigenem Chorwerk »O Theodokos, immer wachend im Gebet« aus dem Jahr 1893. Das Konzert setzt mit glockenähnlichen Akkorden ein, als würde ein Bild der vielen goldenen Kirchenkuppeln beschworen, wie sie das ländliche Russland der Zarenzeit prägten. Rebecca Mitchell betont, dass dieser dramatische Beginn uns so vertraut ist, dass auf seine innovative Struktur nur selten Bezug genommen wird.

Überraschenderweise wurde der erste Satz zuletzt komponiert. Bei einer ersten Aufführung des Zweiten Klavierkonzertes im Jahr 1900 erklangen nur der zweite und dritte Satz. Ein zeitgenössischer Moskauer Kritiker bemerkte danach, es stecke eine Menge Poesie, Schönheit, Wärme, reiche Instrumentierung, gesunder und lebendiger Schöpfungsgeist in diesem Konzert. Rachmaninoffs Talent erstrahle überall und durch alles hindurch.

Rebecca Mitchell erzählt die bekannte Geschichte, wie trotz solch lobender Beurteilungen Rachmaninoff kurz vor der Uraufführung des vollständigen Konzerts im Jahr 1901 der Schreck durchfuhr, als sein Freund Nikita Morozowhatte in einem Brief die Struktur des ersten Satzes kritisierte. Rachmaninoff liess daraufhin in seiner Antwort an seinen Freund selbst kein gutes Haar an seinem Werk: »Ich habe soeben den ersten Teil meines Konzerts gespielt, und erst jetzt wurde mir plötzlich klar, dass der Übergang vom ersten zum zweiten Thema nutzlos ist und dass das erste Thema in dieser Form kein erstes Thema ist, sondern eine Einleitung; und wenn ich das zweite Thema zu spielen beginne, wird niemand glauben, dass es das zweite Thema ist […] Meiner Meinung nach ist dieser ganze Abschnitt verdorben und von dieser Minute an geradezu abstossend. Ich bin einfach verzweifelt! Und warum haben Sie mich fünf Tage vor der Aufführung des Konzerts mit Ihrer Analyse behelligt?«

Sein Hang zur Perfektion und seine tief verwurzelte selbstkritische Haltung führten Rachmaninoff zeitlebens zu wiederkehrenden, intensiven und schmerzhaften Zweifeln an seinen Fähigkeiten.

Die Berliner Philharmoniker unter Chefdirigent Kirill Petrenko mit Solist Kirill Gerstein nach dem Konzert. Photo Copyright © Berliner Philharmoniker.

Photo des Pianisten Kirill Gerstein. Foto Copyright © Martin Borggreve.

Der Pianist Kirill Gerstein

Der 1979 im russischen Woronesch geborene Kirill Gestein konnte als jüngster Schüler aller Zeiten am Berklee College of Music in Boston (USA) studieren, wo er drei Jahre Jazz studierte. Kurz vor dem Abschluss wechselte er zur Manhattan School of Music in New York, um sich fortan der Klassik zu widmen. Nach dem Abschluss mit 20 Jahren kamen Meisterkurse bei Dmitri Baschkirow an der Escuela Superior de Música Reina Sofía in Madrid und bei Ferenc Rados in Budapest hinzu. Zudem studierte er an der International Piano Academy Lake Como in Italien.

Noch als Student debütierte Kirill Gerstein im September 2000 mit dem Tonhalle-Orchester Zürich unter David Zinman. 2001 gewann er die Goldmedaille bei der Arthur Rubinstein International Piano Master Competition. 2002 wurde er mit dem Gilmore Young Artist Award des Irving S. Gilmore International Keyboard Festivals in Kalamazoo ausgezeichnet.

Der Pianist Kirill Gerstein gab sein gefeiertes Debüt bei den Berliner Philharmonikern im April 2016 – ebenfalls mit Rachmaninoffs Klavierkonzert Nr. 2 in c-moll. Seitdem ist er regelmässiger Gast des Orchesters.

Bei der Moskauer Uraufführung sass Rachmaninoff am Flügel, sein Cousin und ehemaliger Klavierlehrer Alexander Siloti dirigierte. Laut Rebecca Mitchell trifft die vorliegende Einspielung von Gerstein und Petrenko den Geist der Uraufführung von Rachmaninow und Siloti vor 122 Jahren – Orchester und Solist führen ein künstlerisch geschlossenes, wunderschön gestaltetes Zwiegespräch, wie man es bei Darbietungen dieses Werks nur selten hört.

Die Interpretation von Petrenko und Gerstein beweist laut Rebecca Mitchell ihr Gespür für Rachmaninoffs Ästhetik; gleichzeitig kommen hier ganz neue musikalische Facetten und Farben eines der bekanntesten Klavierkonzerte überhaupt zum Vorschein.

Die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Chefdirigent Kirill Petrenko mit Kirill Gerstein am Piano: Rachmaninoff 150, Label der Berliner Philharmoniker, Oktober 2023, mit einem 76-seitigen Booklet (deutsch und englisch). Die hybrid-SACD bestellen bei Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr (wir erhalten eine Kommission).

Ebenfalls empfehlenswert ist die 2018 herausgekommene Aufnahme des 2. Klavierkonzertes von Rachmaninoff des russischen Pianisten Daniil Trifonov, eingespielt mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung des Dirigenten Yannick Nézet-Séguin.

Zitate und Teilzitate aus dem umfangreichen Begleitbooklet zum Rachmaninoff- / Rachmaninow-Album der Berliner Philharmoniker mit Kirill Gerstein in dieser Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension vom 8. November 2023 um 13:28 Berliner Zeit.