Der 100. Geburtstag von Henry Kissinger

Mai 28, 2023 at 19:54 530

Gestern, am 27. Mai 2023, feierte Henry Kissinger seinen 100. Geburtstag. Deshalb hier eine Buchkritik.

Henry Kissinger gehört zu den umstrittensten amerikanischen Politikern. Befürwortern gilt er als grosser, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneter Staatsmann und politisches Orakel, Kritikern als Kriegsverbrecher und Hassfigur. Laut Bernd Greiner sah sich der im bayerischen Fürth Geborene als Gestalter des Wandels, Weltenlenker, Visionär, Stratege und im Grunde als letzte Instanz. Dem widerspricht der Biograf in seinem Buch Henry Kissinger. Wächter des Imperiums. Eine Biografie (C.H. Beck 2020, 480 Seiten; Amazon.de) entschieden. Bereits mit Hauptkapitelüberschriften wie „Lehrling“ und „Angestellter“ macht er klar, was er von ihm denkt. Er zitiert Richard Nixon, der ihm 1973 sagte: «Sie sind nur ein bezahlter Helfer».

Bernd Greiner ist Gründungsdirektor und Mitarbeiter des «Berliner Kollegs Kalter Krieg», er lehrte aussereuropäische Geschichte an der Universität Hamburg und leitete von 1994 bis 2013 den Arbeitsbereich «Geschichte und Theorie der Gewalt» am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Neben relativ kurzen Ausführungen zu Kissingers Jugend finden sich neben den unten dargestellten Themen Information zu Vietnam, Kambodscha, Chile, Maos China, Watergate und anderen Themen, jedoch keine Angaben zu Kissinger und die Kurden (unter Führung von Mustafa Barzani), die während seiner Zeit in der US-Administration von den Vereinigten Staaten verraten wurden. Bezüglich der Pariser Friedensgespräche der Johnson Administration mit den vietnamesischen Kommunisten 1968, die laut manchen Darstellungen mit (entscheidender) Hilfe von Kissinger von Nixon und seinem Team hintertrieben wurden, bleibt Bernd Greiner zurückhaltend.

Der Defense Intellectual Kissinger und sein Doktorvater und Mentor William Yandell Elliott

Präsident Nixon machte geheime Tonbandaufzeichnungen im Weissen Haus. Laut Bernd Greiner hatte er die Abhöranlage in Auftrag gegeben, weil er Kissingers Selbststilisierung zum aussenpolitischen Vordenker überdrüssig war und der Nachwelt ein ungeschöntes Zeugnis über die tatsächliche Rollenverteilung hinterlassen wollte. Über 3500 Gesprächsstunden sind in diversen Archiven zugänglich, ein Grossteil zudem als Abschrift.

Bernd Greiner hat sie für seine Biografie ausgewertet, zusammen mit dem bis zu seinem Buch weitgehend unbeachteteten Nachlass von William Yandell Elliott, Kissingers Doktorvater, der er seine akademische Blitzkarriere in Harvard und den Zugang zu einem bedeutenden Netzwerk aus Intellektuellen, Politikern, Militärs und Journalisten verdankte, wodurch der aufstrebende Immigrant ins Blickfeld der politischen Eliten rückte.

William Yandell Elliott soll hinter vorgehaltener Hand als «glorreiche Ruine» gegolten haben, doch als Mittfünfziger habe er mehr Energie und Leidenschaft als viele Jüngere gehabt. Er habe seine Studenten mit manischer Arbeitswut traktiert, darunter John F. Kennedy, Dean Rusk, McGeorge Bundy, Pierre Trudeau, Louis Hartz und Samuel Huntington, die es ihm noch Jahre später gedankt hätten.

William Yandell Elliott war leut Bernd Greiner ein intellektueller Fusssoldat im Kalten Krieg, der als unermüdlicher Netzwerker und leidenschaftlicher Strippenzieher auftrat. Noch im Juli 1959 begleitete er Vizepräsident Richard Nixon nach Moskau und Polen und stand ihm anschliessend im Präsidentschaftswahlkampf als Berater zur Seite.

Für Bernd Greiner gehörte Henry Kissinger zum neuen Typus des Intellektuellen, der an einer «Cold War University» heranwuchs, ein geistiger Sherpa für Amerikas Aufstieg zur Weltmacht, ein «Defense Intellectual».

Als junger Dozent in Harvard schrieb Henry Kissinger 1957 mit 34 Jahren in seinem Buch Kernwaffen und Auswärtige Politik: «Das Nuklearwaffenarsenal der USA ist nur dann etwas wert, wenn wir bereit sind, es zu benutzen.» Begrenzte Atomkriege waren für ihn militärisch machbar, sie zu führen, könne durchaus im nationalen Interesse der Vereinigten Staaten liegen, und es sei politisch hellsichtig, in Krisen mit ihnen zu drohen. Ich: Das erinnert uns heute an den Kriegsverbrecher im Kreml. Der Biograf hat sein Manuskript im Juni 2020 abgeschlossen, vor Putins Eskalation des Krieges gegen die Ukraine, sonst hätte er dies sicher hier erwähnt.

Bernd Greiner schreibt, dass Kissingers Buch von Senator John F. Kennedy in Reden zitiert wurde, Vizepräsident Richard Nixon sich mit einem Exemplar des Buches fotografieren liess, Robert McNamara sagte, es sei das erste und einzige Buch über Nuklearstrategie, das er vor seiner Ernennung zum Verteidigungsminister gelesen habe, der Theologe Reinhold Niebuhr, der Politikwissenschaftler Hans Morgenthau und der «Vater der Atombombe», Robert Oppenheimer lobten es. So wurde es ein internationaler Bestseller. Kritiker, die ihm strategisches Dilettantentum, Realitätsverweigerung oder gar eine Entsorgung ethisch-moralischer Masstäbe vorwarfen, fanden kein Gehör. Dank Radio- und TV-Auftritten wurde Henry Kissinger zu einem landesweit allen geläufigen «household name».

Allerdings kann Kissingers Buch Kernwaffen und Auswärtige Politik auch anders gelesen werden: als Hinwendung zu mehr Flexibilität, als Abkehr von der Eisenhower-Doktrin der Abschreckung gegenüber der Sowjetunion, die nach der Suezkrise als nicht mehr glaubwürdig galt.

Beim Bestseller von Kissinger handelte es sich eventuell um Ideenklau. Bernd Griner erwähnt jedenfalls Bernard Brodie, der im Nachhinein über geistigen Diebstahl klagte. Er, Richard Leghorn, William Kaufman, Edward Teller, Albert Wohlstetter und Paul Nitze bereiteten einen größeren Aufsatz für Foreign Affairs vor. Paul Nitze schrieb, dass militärische Drohpolitik, die im Ernstfall auf beiderseitige Zerstörung hinauslaufe, ein Bluff sei und deshalb ihren politischen Zweck verfehle; wer hingegen nicht nur für Armageddon, sondern zugleich für einen begrenzten Atomkrieg gerüstet sei, könne einen Gegner auf überschaubarem Terrain in die Knie zwingen und die Eskalation zum Äusersten unterbinden.

Detailversessen und wie immer auf pointierte Synthesen bedacht, habe Henry Kissinger Protokoll geführt. Seine eigenen Kommentare seien auf ein geteiltes Echo gestossen. Paul Nitze sagte im Rückblick: «Henry schaffte es, den Eindruck zu vermitteln, dass niemand auf intelligente Art und Weise über Kernwaffen und auswärtige Politik nachgedacht hatte, ehe er auf die Bildfläche trat und es selber machte.»

Warum die Gruppe dennoch dem Drängen ihres Sekretärs nachgab, die kollektive Arbeit für sich zu vereinnahmen und als alleiniger Autor der anstehenden Publikation zu firmieren, blieb vielen ein Rätsel. Vielleicht konnte Kissinger diesen Coup nur landen, weil ein Versuchsballon abgesetzt werden sollte – und im Fall eines Absturzes der unbedarfte Emporkömmling die Verantwortunggetragen hätte, so Bernd Greiner in Wächter des Imperiums (Amazon.de).

Henry Kissinger sei nun auf einer Welle des Erfolgs geritten und habe auch andere tagespolitische Streitthemen kommentiert, immer laut schrill, hysterisch, die Kassandra gebend.

Henry Kissinger und US-Kriegsverbrechen

In seinem Vorwort verweist Bernd Greiner zurecht auf Joe Hagan, der 2007 im New York Magazine erzählte, wie der ABC-Anchorman Peter Jennings 2003 mit der Frage, «Na, Henry, wie fühlt man sich so als Kriegsverbrecher?», in eine Abendgesellschaft der Fernsehjournalistin Barbara Walters platzte. Der Vorwurf steht seit den 1970er Jahren im Raum: wegen Vietnam, Kambodscha, Laos, Bangladesch und Ost-Timor, so Bernd Greiner, laut dem Henry Kissinger in die Geschichte eingehen wollte, mit allen Mitteln und um fast jeden Preis. Allerdings sucht der Leser in Wächter des Imperiums vergeblich nach den Stichworten Agent Orange und Napalm. Dem Thema Kriegsverbrechen widmet der Autor wenige Seiten. Im «Nachwort» illustriert er Kissingers Skrupellosigkeit und Zynismus mit der Mitte der 1950er Jahre über die Atomwaffentests auf dem Bikini-Atoll getätigten Aussage: «Da draußen leben nur 90000 Menschen. Wen schert das schon?»

Nach dem Ausschied aus dem Aussenministerium 1977 habe Henry Kissinger sich nach Kräften um eine neuerliche Berufung bemüht, sei jedoch im einem fort gescheitert, als gäbe es in Washington, D.C. eine ungeschriebene Regel: nie wieder Kissinger. An seiner Stelle wurden ehemalige Untergebene und Weggefährten wie Alexander Haig, Brent Scowcroft, George Shultz, James Baker, Donald Rumsfeld, Richard Cheney, Lawrence Eagleburger, Caspar Weinberger, Robert McFarlane und Anthony Lake Sicherheitsberater, Stabschef, Aussen- oder Verteidigungsminister.

Bernd Greiner unterstreicht, dass Henry Kissinger Winston Churchill nicht nur gelesen, sondern beherzigt habe, der einst den bekannten Satz schrieb: «Die Geschichte wird es gut mit mir meinen, weil ich vorhabe, sie selbst zu schreiben.» Kissinger, zuletzt mit Staatskunst 2022 (!), hat wie Churchill, de Gaulle oder Helmut Schmidt eine Unzahl von Büchern geschrieben, und damit an der eigenen Legende gestrickt.

Henry Kissinger und Willy Brandt

Für Bernd Greiner ist Henry Kissinger ein opportunistischer, egomanischer, skrupelloser Karrierist, der sich so unterschiedlichen Politikern wie Nelson Rockefeller, Hubert Humphrey und John F. Kennedy anbot, ehe ihn schliesslich Richard Nixon in seine Administration holte.

Kissinger gegenüber positioniert Greiner mehrfach Willy Brandt als Lichtgestalt, was allerdings ebenso verfehlt ist, denn der Kanzler selbst zeigte mehrfach Limiten, ebenso wie seine zusammen mit Egon Bahr entwickelte Ostpolitik.

Henry Kissingers Beziehung zu Willy Brandt war seit März 1959 gestört, weil der damalige Berliner Bürgermeister laut Bernd Greiner sinngemäss sagte, wer die Sicherheit des Westens von Kernwaffen abhängig mache, setze diese Sicherheit aufs Spiel. Brandt plädierte für eine Abkühlung der Debatte, um verhängnisvolle Fehlentscheigungen zu vermeiden. Seit dieser Zeit habe der Name Willy Brandt bei Henry Kissinger politische Allergien ausgelöst.

An anderer Stelle schreibt Bernd Greiner: Nachdem Egon Bahr, engster Mitarbeiter Brandts in aussenpolitischen Fragen, im Oktober 1969 Henry Kissinger die Bonner Überlegungen zur Ostpolitik vorgestellt hatte, schrillten in Washington alle Alarmglocken. Der Hinweis Bahrs, die USA würden informiert, aber nicht konsultiert, galt als ebenso unerhörte wie ungehörige Emanzipationserklärung. Laut Henry Kissinger dohte die Gefahr einer Neutralisierung der Bundesrepublik nach dem Vorbild Finnlands. Oder eine deutsch-russische Allianz nach dem Vorbild des Vertrages von Rapallo aus dem Jahr 1922. Oder beides zusammen, verbunden mit einem Infektionsrisiko für das restliche Westeuropa.

Wäre es nach Henry Kissinger gegangen, wäre Bonns Ostpolitik auf die lange Bank oder, besser noch, aufs Abstellgleis geschoben worden: «Wenn schon Entspannung mit der Sowjetunion, dann machen wir sie.»

An wieder anderer Stelle zitiert Bernd Greiner aus Nixons geheimen Tonbandaufzeichnungen aus dem Oval Office vom Juni 1971: RICHARD NIXON: «Guter Gott, wenn [Brandt] Deutschlands Hoffnung ist, dann hat Deutschland nicht viel Hoffnung. […] Ich will nicht sagen, dass wir von der Ostpolitik begeistert sind.» HENRY KISSINGER: «Das Hauptproblem ist, dass er [Brandt] nicht sehr helle ist.» NIXON: «Dieser Kerl ist wirklich ein bisschen dumm.» KISSINGER: «Dumm und faul, […] und er trinkt.»

1972 ist auf den Tapes zu hören, dass der Weltfrieden am wenigsten in Vietnam und am meisten in Berlin bedroht wurde, stand für Nixon fest. RICHARD NIXON: «Die geringste Bedeutung hat Vietnam. Nie, nie, nie drohte dort ein Weltkrieg. […] Verdammt noch mal, das wissen wir doch alle. […] In Berlin geht es um alles. Scheisse, wenn dort etwas passiert, hängen wir alle drin.» Trotzdem wollte er Willy Brandt und europäische Entspannung laut Bernd Greiner nur in den Kammerspielen sehen, die grosse Bühne war für Washington reserviert – und dort ging es wie gehabt hauptsächlich um Vietnam.

Im Abklingbecken: Die Zeit nach Nixon und Ford

Aus der Zeit nach Nixon un Ford ein Detail aus dem Jahr 1984: Über den teilweise unter Kissinger erarbeiteten «Report of the National Bipartisan Commission on Central America» wurde ein Scherbengericht gehalten. Gut ein Dutzend vom «Carnegie Endowment for International Peace» befragte Wissenschaftler und ehemals für Lateinamerika zuständige Regierungsmitarbeiter, der Historiker Arthur Schlesinger Jr., MacGeorge Bundy, Sicherheitsberater von Präsident Kennedy, ein Rezensent von «Foreign Affairs», Senator Daniel Patrick Moynihan – sie und zahlreiche andere hieben in dieselbe Kerbe, wütend die einen, entsetzt bis fassungslos die anderen. Nicht nur die erwarteten Verrisse aus dem linksliberalen und linken Spektrum gab es, sondern zudem aus der politischen Klasse.

Der sicherheitspolitische Teil des Berichts, der Kissingers Handschrift trug, behauptete, dass die politischen Unruhen in Zentralamerika aus Moskau und Havanna gesteuert würden und alsbald wie ein Flächenbrand auf benachbarte Staaten übergreifen könnten. Das war laut Bernd Greiner und den damaligen Kritikern aus der Luft gegriffen. Nicht nur konnte die Kommission keinen einzigen belastbaren Beweis für die vermeintliche Fernsteuerung erbringen. Ein genauer Blick auf die sattelfesten Machthaber in Mexiko, Panama, Venezuela und Kolumbien hätte gezeigt, wie wirklichkeitsfremd das Bild fallender Dominosteine war. Was Kissinger freilich nicht davon abhielt, eine Bedrohung der US-amerikanischen Landesgrenzen sowie der Schifffahrtsrouten in der Region an die Wand zu malen. Seit dieser Zeit stand Henry Kissinger nicht einmal mehr an der Seitenlinie, er wurde auf die Tribüne verbannt, auf der er missmutig vor sich hin brummte, so Bernd Greiner.

Für den Biografen, den Journalisten William Pfaff zitierend, ist Henry Kissinger ein eindrucksvolles Beispiel dafür, das Stil wichtiger ist als Substanz. Bernd Greiner schreibt im Nachwort, dass Kissinger die Kunst des raunenden Schreibens sowie der vernebelten Rede beherrschte. Bei Bedarf schielte er in die eine Richtung und rannte in die andere davon. Für Kissinger ist Amerikas Vorherrschaft unverzichtbar, eine Führungsmacht braucht den Willen zur Gewalt, Macht beruht auf Angst. Der Autor kommt zum Schluss, dass Kissinger an seiner Selbstüberschätzung scheiterte.

Dies und noch viel mehr gibt es zu entdecken in Bernd Greiner: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums. Eine Biografie, C.H. Beck 2020, 480 Seiten. Die Biografie bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Buchkritik von Bernd Greiner: Henry Kissinger. Wächter des Imperiums. Eine Biografie sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik vom 28. Mai 2023 um 19:54 deutscher Zeit. Zuletzt ergänzt am 29. Mai 2023 um 12:27.