Das Angermuseum – Kunstmuseum der Landeshauptstadt Erfurt besitzt den weltweit grössten Bestand an Werken von Friedrich Nerly (1807–1878), einem bedeutenden Spätromantiker, Freilicht-, Landschafts- und Vedutenmaler, der als Erfinder des venezianischen Mondscheinbildes gilt.
Den Nachlass bestehend aus Ölstudien, Gemälden, Skizzenbüchern, Aquarellen und vielen Hundert Zeichnungen aus allen Schaffensphasen lenkte sein ebenfalls künstlerisch tätiger Sohn Friedrich Nerly d. J. (1842–1919) nach Erfurt. Es war Eduard von Hagen, der Neffe des in der Lagunenstadt verstorbenen Künstlers, der sich erfolgreich dafür einsetzte, dass das umfangreiche Konvolut den Grundstein für das 1886 gegründete Angermuseum in Erfurt legte.
Das Ziel des mit der noch bis am 20. Juli 2025 dauernden Nerly-Ausstellung im Angermuseum verbundenen mehrjährigen Restaurierungs- und Forschungsprojekts liegt neben der Bestandserfassung – einschliesslich seiner Verlustgeschichte – darin, Friedrich Nerly als reisenden Landschaftsmaler anhand aktueller Fragestellungen aus der Kulturtransfer-Forschung neu zu verstehen.
Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt. Die Gemälde und Ölstudien des Nerly-Bestandes im Angermuseum Erfurt. Herausgegeben von: Claudia Denk, Kai Uwe Schierz, Thomas von Taschitzki. Deutscher Kunstverlag, gebundene Ausgabe, Dezember 2024, 560 Seiten mit 450 Farbabbildungen, 25 × 29 cm. ISBN 978-3-422-80257-5. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Die Erfurter Ausstellung präsentiert rund 200 Werke – darunter herausragende Leihgaben grosser deutscher Museen aus Bremen, Hamburg, Berlin und Düsseldorf sowie bedeutende Gemälde aus Privatbesitz.
Der opulente, begleitende Katalog stellt die erste umfassende Publikation zum Erfurter Haupt-Nachlass des Landschaftsmalers Friedrich Nerly dar. Der reiche Bestand an Gemälden und Ölstudien ermöglichte es in Verbindung mit dem Korpus an Zeichnungen, den Maler in all seinen Facetten zu erforschen.
Friedrich Nerly studierte zunächst in Hamburg beim Kunstpädagogen Carl Friedrich von Rumohr, der bald mit seinem Schüler nach Italien aufbrach. Hier fand Nerly seine neue Wahlheimat und schuf bereits in Rom, wo er 1828 ankam, spektakuläre Ölstudien. Seine Hauptschaffenszeit verbrachte er als „celebre pittore“ in Venedig, ehelichte eine Venezianerin aus gutem Haus, residierte als früher «Malerfürst» über vier Jahrzehnte im altehrwürdigen Palazzo Pisani, malte als erfolgreichster ausländischer Maler für die ganze Welt und erfand als Trendsetter und Verkaufstalent das venezianische Mondscheinbild.
Als deutscher Romantiker änderte er die Ikonografie der Lagunenstadt grundlegend. Erfolgreicher als die einheimischen Vedutenmaler konnte er mit seinem herausragenden Talent die Sehnsüchte der Reisenden nach gemalten Erinnerungstücken erfüllen. Zusammen mit dem Dicher Lord Byron und dem Komponisten Richard Wagner verwandelte er die Lagunenstadt in einen Sehnsuchtsort der europäischen Romantik.
Laut Katalog wurde der berühmteste ausländische Maler in Venedig früh vom Direktor der Berliner Nationalgalerie Hugo von Tschudi und dem Gründungsdirektor der Hamburger Kunsthalle Alfred Lichtwark «entdeckt». Auf Grund seiner Ölstudien wählte Hugo von Tschudi Werke von Friedrich Nerly neben solchen von Carl Blechen und anderen für seine legendäre Jahrhundertausstellung von 1906 aus. Alfred Lichtwark wiederum wies Nerly aufgrund seiner Ölstudien »einen ganz hervorragenden Platz unter den Landschaftsmalern der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts« zu und empfahl für ein Studium die unter freiem Himmel entstandenen kleinen Meisterwerke aus dem Nerly-Nachlass im Städtischen Museum in Erfurt.
Zu den frühen Jahren von Friedrich Nerly ist im Katalog unter anderem zu lesen, dass sein Grossvater Johann Wilhelm Hässler als innerfamiliäres Role Model diente. Der Komponist und Musiker reiste durch die grossen europäischen Städte bis zum Kaiserlich-Russischen Hof, wo er Hofkapellmeister wurde. Der Ehemann einer Schwester der Mutter, Carl Eberwein, war der Dirigent von Goethes Hauskapelle und ermöglichte Friedrich Nerly im Jahr 1827 eine Audienz beim alten Dichterfürsten in Weimar. Die wichtigste Begegnung seiner frühen Jahre habe allerdings bereits lange zuvor in Hamburg stattgefunden, wohin er nach dem Tod seines Vaters als Halbwaise gekommen war. Mit 16 Jahren wurde er vom reformorientierten Kunstpädagogen Carl Friedrich von Rumohr in der Steindruckereiwerkstatt eines weiteren angeheirateten Onkels, des Lithografen Heinrich Joachim Herterich, und dessen Kompagnon Johann Michael Speckter entdeckt. Ohne die Begegnung mit diesem hervorragend vernetzten Kunsttheoretiker, Kunstmäzen und Kunstpädagogen wäre Friedrich Nerly sicherlich nicht zum bedeutenden und innovativen Maler aufgestiegen.
Friedrich von Rumohr förderte seinen Schüler auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland weiterhin aus der Distanz. Friedrich Nerly war in Italien und weltweit unter verschiedenen Namen bekannt, so auch als Fritz, Federico bzw. Federigo Nerly.
Laut dem Katalog rückt die Kulturtransfer-Forschung Nerlys grosse Mobilität in den Fokus. Seine Lebensreise und sein beständiges Unterwegssein im Sinne des neuen Ideals des Landschaftsmalers als Reisekünstler führten zur inhaltlichen Ordnung des Nachlasses in vier Hauptkapitel, die in chronologischer Abfolge seinen Lebensstationen folgen und sich in Unterkapiteln topografischen wie thematischen Gesichtspunkten widmen: Lehrjahre bei Rumohr, im Kreis der frühen Freilichtmaler in Rom, die Interimszeit in Mailand, die erfolgreichen Jahrzehnte in Venedig.
Die Forschungen erlaubten zahlreiche neue, genaue topografischen Verortungen seiner Werke. Eine wichtige Aufgabe des Projekts bestand zudem darin, Antworten auf die Frage zu finden, welche Fertigkeiten und Techniken Nerly in welchen Phasen erlernte und zur Reifung brachte. So wurde deutlich, dass er die innovative Ölstudienmalerei aus seiner Lehrzeit bei Rumohr von Deutschland nach Italien führte und diese während seiner frühen römischen Jahre zu grosser Meisterschaft entwickelte.
Die Herausgeber verweisen in ihrem Vorwort darauf, dass der Katalog die beiden Seiten des Schaffens von Friedrich Nerly würdigt: seine zukunftsweisenden Ölstudien als naturnahes Studien-und Übungsmaterial, das jenseits der Öffentlichkeit und des vorherrschenden Kunstgeschmacks entstand und weder für den Verkauf noch für Ausstellungen bestimmt war, und seine Ateliergemälde, mit denen er seine internationalen Verkaufserfolge erzielte.
Bisher sei übersehen worden, dass Nerly während seiner venezianischen Hauptschaffensjahre die entscheidenden Eigenschaften eines Künstlers an der Schwelle zur Moderne in sich vereinte: Als ein Vorläufer des modernen Künstlers sei er aus den exklusiven Auftragsbeziehungen herausgetreten und habe es virtuos verstanden, sich in der immer stärker global handelnden und kommunizierenden Welt zu behaupten, die mehr und mehr den Gesetzen des freien Kunstmarkts folgte. Als deutscher Romantiker habe er nachhaltig die Ikonografie der Lagunenstadt im Lichtglanz des silbrigen Mondscheins und glühender Sonnenuntergänge verändert. Zudem habe er sich auf die Spuren Shakespeares begeben und sich zugleich dem architektonischen Erbe der Stadt als einer der ersten Freilichtmaler und frühen Denkmalpfleger angenähert.
Die Katalog-Essays befassen sich mit der Rekonstruktion der Erfurter Nerly Schenkung (Thomas von Taschitzki); dem Thema Friedrich Nerly – »celebre pittore a Venezia« Claudia Denk), in dem die Autorin festhält, dass der Künstler in Venedig immer den Aussenblick des Zugereisten behielt, der einen neuen Markt bediente und die Serenissima neu malte, als sie sich zu einer der weltweit ersten Touristenstädte entwickelte; der Erfindung des venezianischen Mondschein-Bildes (Claudia Denk); der Frage, wie aus Ölstudien Ausstellungsbilder wurden (Claudia Denk, Karin Kosicki, Thomas von Taschitzki); mit kunsttechnologischen Untersuchungen, der Konservierung und Restaurierung der Gemälde und Ölstudien von Friedrich Nerly (Karin Kosicki).
Besonders hervorzuheben ist, dass der Bildteil nicht nur Bildbeschreibungen, Angaben zu Quellen, Literatur und Provenienz enthält, sondern zudem technologische Befunde: Informationen zum Bildträger und seinem Zustand, zur Malschicht sowie zu Restaurierungsarbeiten. So sollten Bestandskataloge bzw. Werkverzeichnisse aussehen.
Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt. Die Gemälde und Ölstudien des Nerly-Bestandes im Angermuseum Erfurt. Herausgegeben von: Claudia Denk, Kai Uwe Schierz, Thomas von Taschitzki. Deutscher Kunstverlag, gebundene Ausgabe, Dezember 2024, 560 Seiten mit 450 Farbabbildungen, 25 × 29 cm. ISBN 978-3-422-80257-5. Cookies akzeptieren – wir erhalten eine Kommission bei unverändertem Preis – und das Buch bestellen bei Amazon.de.
Siehe zu Venedig unter anderem den englischen Artikel zur Revolution der venezianischen Malerei und die deutschen Artikel zu venezianischen Zeichnungen und Druckgraphiken aus vier Jahrhunderten sowie zum Werk von Bernardo Bellotto.
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Rezension/Buchkritik von Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt. Die Gemälde und Ölstudien des Nerly-Bestandes im Angermuseum Erfurt hinzugefügt am 20. März 2025 um 15:19 deutscher Zeit.