Gerhard Richter. Leben und Werk

Mrz 28, 2023 at 23:34 638

Armin Zweite hat mit Gerhard Richter. Leben und Werk bei Schirmer/Mosel (Amazon.de) ein umfassendes Portrait des bedeutendsten und höchstdotierten lebenden Künstlers mit deutschem Pass verfasst. Der Autor hat bereits Werkübersichten und andere Bücher zu Joseph Beuys (Amazon.de), Jackson Pollock, Barnett Newman, Cy Twombly und vielen anderen publiziert. Zu Gerhard Richter hält der Autor fest, dass kein anderer deutscher Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen vergleichbaren internationalen Status erreicht habe.

Armin Zweite war Direktor des Lenbachhaus München von 1974 bis 1990, Leiter der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen von 1990 bis 2008 sowie der Sammlung Brandhorst in München von 2008 bis 2013. Er ist zudem ein Freund und früher Förderer von Gerhard Richter (*1932 in Dresden).

Gerhard Richter. Leben und Werk (Amazon.de) ist bei weitem nicht die erste Zusammenarbeit mit dem weltberühmten Künstler. Armin Zweite schreibt, ihr erstes gemeinsames Projekt habe 1973 stattgefunden, wenig später habe eine Publikation des Schirmer/Mosel-Verlags eine Ausstellung im Lenbachhaus begleitet. Das sei der Beginn einer über vierzigjährigen Zusammenarbeit mit Gerhard Richter und dem Schirmer/Mosel-Verlag bei unterschiedlichen Projekten gewesen.

Retrospektiven und andere Ausstellungen

Anlässlich der Retrospektive Gerhard Richter. Bilder 1962–1985 in der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf, die danach von der Nationalgalerie Berlin, der Kunsthalle Bern sowie dem Museum moderner Kunst/Museum des 20. Jahrhunderts in Wien übernommen wurde, sagte der damals 54-jährige, längst weltweit erfolgreiche Künstler: „Ich sehe mich als Erben einer ungeheuren, großen, reichen Kultur der Malerei, der Kunst überhaupt, die wir verloren haben, die uns aber verpflichtet. Und da ist es nicht leicht, nicht zu restaurieren oder, was genauso schlimm wäre, nicht zu resignieren, nicht zu verkommen.“

1993/94 war eine weitere Gesamtschau in vier Ländern zu sehen: im Musée d’art moderne de la Ville de Paris, der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, dem Moderna Museet in Stockholm sowie dem Museo National Centro de Arte Reina Sofía in Madrid.

2002 organisierte Robert Storr anlässlich des 70. Geburtstags des Künstlers die Retrospektive Gerhard Richter: Forty Years of Painting, die erneut den „polysemischen Reichtum von Richters Schaffen“ im Museum of Modern Art in New York, im Chicago Art Institute, im San Francisco Museum of Modern Art sowie im Washingtoner Hirshhorn Museum and Sculpture Garden zeigte.

Damals wurde Gerhard Richter gefragt, wie er verstanden werden wollte. Laut Armin Zweite antwortete der Künstler halb selbstironisch: „Vielleicht doch als der Hüter der Tradition. Das ist mir dann lieber als alle sonstigen Missverständnisse.“

Zum 80. Geburtstag folgte unter dem Titel Gerhard Richter. Panorama eine europäische Werkschau, die in der Tate Modern in London, in der Nationalgalerie Berlin und im Centre Pompidou in Paris gezeigt wurde. Armin Zweite unterstreicht, dass auch hier erneut die Vielfalt der malerischen Idiome und die Komplementarität der Werke von Gerhard Richter offenbart wurde.

Hinzu kommen viele weitere grössere und kleinere – so 100 Selbstbildnisse – Ausstellungen, die thematischen Schwerpunkten, Gattungen, Techniken oder zeitlichen Abschnitten seines Werks gewidmet sind. Das Albertinum in Dresden erforschte das weitgehend unbekannte Frühwerk von Gerhard Richter, das Kunstmuseum Winterthur widmete sich seinen Zeichnungen und Aquarellen sowie dem Thema Streifen und Glas. Die Fondation Beyeler zeigte Gerhard Richters Interesse an der wechselseitigen Beziehung zwischen Werkgruppen und Ausstellungsraum, Einzelbild und Umgebung. Ein Höhepunkt der Schau bildete der 15-teilige Zyklus 18. Oktober 1977 (Amazon.de, Amazon.com, Amazon.co.uk), der sich auf den Selbstmord einiger RAF-Terroristen in Untersuchungshaft in Stammheim bezieht und normalerweise im MoMA in New York zu sehen ist.

Dies sind nur einige Beispiele von Ausstellungen, durch die die herausragende Bedeutung und Wandelbarkeit von Gerhard Richter dokumentiert wird, der sich unter anderem mit Fotorealismus, Monochromie, Concept Art und farbstarken Abstraktionen im kleinen und grossen Format beschäftigt hat.

Armin Zweite: Gerhard Richter. Leben und Werk

Armin Zweite unterstreicht in Gerhard Richter. Leben und Werk (Amazon.de), eine umfassende Biographie sei nicht das Ziel der vorliegenden Publikation. Die Lebensumstände Gerhard Richters würden nur gestreift, wenn sie für das Verständnis einzelner Werke unumgänglich erscheinen. Ganze Perioden, Werkkomplexe und verschiedene Gattungen blieben ausgespart. So bleibe unberücksichtigt, was der Maler während und nach seiner Ausbildung an der Dresdener Akademie noch in der DDR realisieren konnte (siehe dazu Gerd Richter).

Der Autor hält fest, nicht die Kohärenz des Schaffens von Gerhard Richter stehe im Mittelpunkt der Kapitel des vorliegenden Buches, sondern die Heterogenität seiner Strategien. Nicht das Gesamte werde in den Blick genommen, sondern immer nur einzelne Aspekte und ihre jeweiligen Transformationen über kürzere oder längere Zeiträume hinweg. Er betont, die gegenständliche Welt bleibe als Bezugspunkt und Referenz in den Arbeiten von Gerhard Richter immer spürbar.

Armin Zweite unterstreicht, dass der Künstler in vielen seiner Selbstcharakterisierungen immer wieder auf folgende Beweggründe, Motive, Thematiken seiner Kunst verwiesen hat: den Gegensatz von Tradition und Innovation, von Glaube und Ideologie, von Engagement und Neutralität, von Selbstbestimmung und Fatalität, von Emphase und Kontrolle.

Vergleichbare Widersprüche bestimmten zudem den anschaulichen Charakter seiner Werke: gegenständliche Motive konkurrierten mit Abstraktionen, eine graue Bildwelt kontrastiere mit einem reichen Kolorismus, ausfahrende Gestik stehe strengem Formalismus gegenüber, auf den gesteuerten Zufall folge Regelhaftigkeit, an die Stelle geschlossener Oberflächen träte dynamische Faktur, Durchsichtigkeit löse Opazität ab, das Banale konterkariere das Schöne, Gleichgültigkeit den Affekt, das singuläre Werk behaupte sich gegenüber der Serie.

Armin Zweite meint, das Schwanken zwischen traditionellen und avantgardistischen Einstellungen, zwischen unpersönlichen Verfahren und subjektiver Motivation, zwischen Konstruktion und Destruktion bestimme wie der Gegensatz von Narration und Sprachlosigkeit das Schaffen von Gerhard Richter. Suggestion und entschwindende Fasslichkeit könnten als leitmotivische Bildabsichten verstanden werden, die das Werk durchziehen. 2002 sagte der Künstler, nicht die Realität solle ins Bild geholt werden, sondern „der Schein der Realität“.

Armin Zweite schreibt, dass sich Gerhard Richteer in seinen frühen Düsseldorfer Jahren, als er sich neu zu orientieren begann, zu der Auffassung gelang, dass die Beziehung zu seinem Werk durchaus zwiespältig sei und sich seine Bedeutung und Wahrheit nicht nur ihm selbst finde. Zuerst befreundete Künstler, dann zudem Galeristen, Kritiker und Sammler spielten eine wichtige Rolle bei seiner Suche nach einer eigenen künstlerischen Konzeption.

Armin Zweite hebt hervor, Gerhard Richter sei ein sehr nachdenklicher Künstler, der nicht nur ästhetisch hochsensibel reagiere, sondern auch historisch denke und sein bildnerisches Schaffen theoretisch durchdringe. Immer wieder mache er sich Gedanken über die Tagesaktualität hinaus. Er sei sich bewusst, dass der historische Rang seines Œuvres in erster Linie von der Qualität seiner Werke abhänge, dann aber auch von ihrer Rezeption. Er versuche, zukünftige Würdigungen seines Schaffens zu beeinflussen, wohl wissend um die begrenzte Wirkung solcher Manöver.

Gerhard Richter hat seine Werke auf seiner Webseite online veröffentlicht, die unabhängig vom Atelier des Künstlers geführt wird. Armin Zweite verweist auf die Weitsichtigkeit des Künstlers, der bereits um 1969 eine Liste seiner bis dahin geschaffenen Werke erstellte, aus der dann Zug um Zug ein Werkverzeichnis erwuchs, das er 1986, 1993 und 2005 in verschiedenen Ausstellungskatalogen abdrucken liess, bevor 2011 der erste Band des auf sechs Bände angelegten wissenschaftlichen Œuvre-Verzeichnisses in der Bearbeitung von Dietmar Elger veröffentlicht wurde. Durch die wissenschaftliche Aufarbeitungs seines Werken werden Fragen der Authentizität, der Techniken und Provenienzen geklärt.

Gerhard Richter ist ein selbstkritischer Künstler, der sich unter anderem fragt, ob Malerei überhaupt noch möglich und sinnvoll ist. Armin Zweite verweist auf einen Brief des Künstlers vom 23. Mai 1977 an den Kunstkritiker und Kurator Benjamin H. D. Buchloh, in dem er grundsätzliche Zweifel an seiner künstlerischen Arbeit äussert. Für Armin Zweite handelt es sich um ein Schlüsseldokument, das Richters bis dahin verfolgten Ziele radikal in Frage stelle: Symbolkitsch, pure Dekoration, Nostalgie, Indifferenz, Zufall, Unsinn, Willkür prägten seine Werke.

Armin Zweite meint, Gerhard Richter weiche den Gefahren des Scheiterns letztlich souverän aus, es gebe keine Sackgassen in seinem Werk, sondern immer wieder Motivkomplexe und Arbeitsstrategien, die ein Stück weit verfolgt würden, bevor er sich anders orientiere, die Richtung und das Verfahren ändere, um manchmal nach Jahren oder gar Jahrzehnten das einmal Begonnene wie wieder aufzunehmen, zu transformieren und weiterzuführen.

Der Biograf urteilt, das auf den ersten Blick verwirrend vielfältige Gesamtwerk von Gerhard Richter basiere nicht auf einer einzigen, in sich stimmigen und zielgerichteten Konzeption von Kunst, sondern vielmehr auf einem Geflecht folgerichtiger Intentionen und konsequenter Vorstellungen über die Bedingungen der Möglichkeiten von Malerei bzw. von Kunst in einer Zeit des totalen Utopieverlusts und der absoluten Vorherrschaft instru mentellen Denkens.

Gerhard Richter sei in der DDR sozialisiert und ausgebildet worden, habe in Düsseldorf insbesondere unter dem Eindruck von Fluxus und Pop Art, später dann in der Auseinandersetzung mit Konzeptkunst und Minimal Art und nicht zuletzt angesichts der alle Lebensbereiche durchdringenden Digitalisierung sehr rasch verstanden, dass in sich konsequente Haltungen, die sich auch in einem spezifischen, kaum wandelbaren Stil und einem beschränkten Arsenal von Motiven manifestierten, keine Legitimation und damit auch keine Zukunft mehr haben würden.

Armin Zweite unterstreicht, mit seiner grundsätzlichen Haltung, die in gleicher Weise von Skepsis und Entschiedenheit bestimmt werde, befinde sich Gerhard Richter in guter Gesellschaft. Er verweist auf die Heterogenität und Sprunghaftigkeit, die Widersprüche und emphatischen Neuorientierungen sowie den häufigen Wechsel zwischen unterschiedlichen Medien in den Lebenswerken von Andy Warhol (1928–1987) und Robert Rauschenberg (1925–2008). Die Entschlossenheit, ständig neue Möglichkeiten auszuloten, Grenzen zu überschreiten und jegliche Routine zu vermeiden, das verbinde Gerhard Richter mit den wichtigsten Künstlern des 20. Jahrhunderts.

Armin Zweite schreibt, anders als Benjamin H. D. Buchloh habe Robert Storr bei seinen Analysen der Werke Gerhard Richters vor allem den Wahrnehmungsaspekt ins Zentrum gestellt: Die Darstellungen behaupteten ihre Eigenmächtigkeit als Repräsentationen von erkennbaren Motiven und liessen zugleich die Fähigkeit hervortreten, Bilder zu benutzen, um Dinge hervorzubringen, die unsere Alltagserfahrung überschreiten. Reines Sehen gebe jedoch keine Auskunft über die Dinge, wie sie wirklich seien. Wir könnten uns ebenso wenig sicher sein, das Wesen eines Gegenstandes zu erfassen, ob wir diesen mit unseren Augen betrachteten oder in seiner künstlerischen Vergegenwärtigung wahrnähmen. Aber wir werden „bei der Betrachtung der Werke Richters an die Grenzen unseres Wissens durch den wiederholten Versuch gelangen, das Ungreifbare zu erfassen“.

Gerhard Richter äusserte im Jahr 2000, er wolle „die menschlichen Wahrnehmungs- und Erkenntnisgrenzen erweitern beziehungsweise aufbrechen“, um sich an etwas anzunähern, „das meinen Verstand übersteigt, an etwas Transzendentes“.

Dies sind nur einige Angaben aus der ausführlichen Einleitung von Armin Zweite: Gerhard Richter. Leben und Werk. Schirmer/Mosel 2019. Die zweite Auflage aus dem Jahr 2022 mit 480 reich illustrierten Seiten bestellen bei Amazon.de.

Siehe auch die Biografie von Dietmar Elger: Gerhard Richter, Maler. DuMont Buchverlag, 2002, 416 Seiten. Die dritte Auflage aus dem Jahr 2018 bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Rezension / Kritik von Armin Zweites Buch Gerhard Richter. Leben und Werk (Amazon.de) sind der besseren Lesbarkeit wegen zumeist nicht zwischen Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik der Biografie vom 28. März 2023 um 23:34 deutscher Zeit.