Das Buch Kirchner und Nolde: Expressionismus. Kolonialismus befasst sich mit den Werken der Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) und Emil Nolde (1867-1956) vor dem Hintergrund des deutschen Kolonialismus der Jahre 1908 bis 1918. Auf der Suche nach einer authentischen Kunst wandten sich Künstler insbesondere Menschen und Objekten aus Afrika und Ozeanien zu.
Insgesamt 18 Autoren haben Beiträge zu diesem reich illustrierten Band beigesteuert. Sie reichen von den ethnologischen Museen in der Kaiserzeit über die Forderung der Rückgabe von Kunstwerken, die aus damaligen Kolonien stammen, bis zu Emil Noldes Expedition in die deutsche Südsee 1913/14, von Völkerschauen, der Begegnung mit dem Exotischen, über Ernst Ludwig Kirchners Ateliers in Berlin und Dresden bis zu Kirchners Kindermodellen. Die Bandbreite der Artikel ist gross.
Ausstellung und Katalog Kirchner und Nolde wollen dem Bild von Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) und Emil Nolde als glühende Verfechter der Moderne, die voller Erwartungen an eine neue Welt akademischen Traditionen und bürgerlichen Normen den Rücken kehrten und sich auf die Suche nach einer «natürlicheren», «reineren», «ursprünglicheren» Lebensweise begaben, eine dunklere, gewaltsamere Ebene hinzufügen und so einen neuen Blick auf den Expressionismus eröffnen.
Es geht laut den Ausstellungsmachern um Vereinnahmung und Ausbeutung der in den Kolonien vorgefundenen Völker, Gebräuche und kulturellen Ausdrucksformen in der Zeit von 1908 bis 1918. Die Autoren erläutern die unterschiedlichen Ansätze der zwei Künstler – im Gegensatz zu Kirchner reiste Nolde tatsächlich in eine Kolonie, nämlich nach Deutsch-Neuguinea; seit 1975 ein unabhängiges Land mit dem Namen Papua-Neuguinea.
Die drei beteiligten Museumsdirektoren schreiben, die Selbstverständlichkeit und das Anspruchsdenken, mit denen die Künstler all die aus ihrer Sicht andersartigen Menschen und Gegenstände für sich beanspruchten, sei ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass wir über die Menschen, die in ihren Werken eine wichtige Rolle spielen, und deren persönliche Lebensumstände so gut wie nichts erfahren. Dies gilt für die namenlosen Tänzer*innen und Sänger*innen in Kirchners Darstellungen der grossstädtischen Vergnügungskultur, aber auch für fast alle Personen, die Nolde in Papua-Neuguinea malte, für die Kindermodelle, mit denen Kirchner auf Fehmarn schwimmen ging, und für die Menschen, die in den sogenannten Völkerschauen fotografiert wurden.
Nolde und Kirchner gehören zu den Künstlern, die das europäische Gefühl der Überlegenheit untermauerten und die ethnischen Klischees lebendig hielten, die durch den wissenschaftlichen Rassismus und den Kolonialismus entstanden waren und unsere Welt noch immer prägen, betonen die drei Museumsdirektoren aus Kopenhagen, Amsterdam und Berlin, in denen die Ausstellung zu sehen ist bzw. sein wird.
Die beiden Kuratorinnen der Ausstellung Kirchner und Nolde, Dorthe Aagesen vom Statens Museum for Kunst in Kopenhagen und Beatrice von Bormann vom Stedelijk Museum Amsterdam, erinnern in ihrer Einführung daran, dass Emil Nolde und seine Frau Ada, als sie im Oktober 1913 den Zug nach Russland und China bestiegen, um sich von dort nach Papua-Neuguinea zu begeben, dies als Teil der vom Reichskolonialamt in Berlin finanzierten Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition taten. Sie sollte den Gesundheitszustand der Menschen in der Kolonie untersuchen, um so die Ursache für den dortigen Bevölkerungsrückgang zu ermitteln. Emile Nolde sagte zu seiner Rolle, er habe die «freie und besondere Aufgabe» gehabt, die «rassischen Eigentümlichkeiten der Bevölkerung» zu erforschen. Seine Frau Ada führte dabei ein detailreiches Tagebuch und fungierte als Fotografin.
Die beiden Kuratorinnen von Kirchner und Nolde verstehen ihr Projekt als kritische Analyse der Beziehung zwischen der modernen Kunst Europas und Kulturen und Kunstformen aus anderen Teilen der Welt, das gleichzeitig die Ungleichheiten, den Missbrauch, ja die Gewalt in der Beziehung zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten thematisiert.
Der deutsche Kolonialismus und sein Verhältnis zu den Künsten wurde in Ausstellungen wie Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart im Deutschen Historischen Museum Berlin (2016/17) und in Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit in der Kunsthalle Bremen (2017) untersucht. Kirchner und Nolde baut auf den Erkenntnissen dieser Ausstellungen auf, unterscheidet sich jedoch laut den Kuratorinnen von diesen vor allem durch die Konzentration auf Nolde und Kirchner und die spezifischen Verbindungen ihrer Werke mit unterschiedlichen Manifestationen des Kolonialismus innerhalb und ausserhalb des kaiserzeitlichen Deutschlands.
Aus diesem Grund liege der Fokus auf der Erkundung des historischen und ideologischen Kontextes
der beiden Künstler und ihres Werks. Die Kuratorinnen und Autoren haben untersucht, wo Kirchner und Nolde insbesondere Menschen aus Afrika und Ozeanien kennenlernten, was sie sahen, und unter welchen Umständen dies geschah. Über die Objekte in ihren Kunstwerken und die Identität der Dargestellten wurde viel recherchiert. Oft fehlen jedoch Quellen, weshalb die Kuratorinnen und ihre Helfer häufig in Sackgassen landeten, jedoch vom Austausch mit Menschen ausserhalb der Museen und ihrem Sachverstand profitierten.
Die Kuratorinnen wissen weder, ob Milly/Milli, Sam und Nelly (angeblich der Name eines dritten
Schwarzen Modells von Kirchner) ihre richtigen Namen waren, noch, woher sie kamen, und auch nicht, wie der Künstler sie kennenlernte, obwohl sie wahrscheinlich im Zirkus Albert Schumann in Dresden und Berlin auftraten. Doch bekannt sind vergleichbare Lebensgeschichten, die an die Stelle der möglichen Geschichten der drei Modelle treten und diese repräsentieren.
Katalog und Ausstellung sind in vier thematische Abschnitte unterteilt, die als Kontaktzonen konzipiert sind, in denen sich europäische Künstler*innen, Ethnologen, Menschen aus anderen Weltteilen oder Objekte ihrer Kulturen ebenso wie indigene Völker in kolonisierten Ländern begegnen konnten: ethnologische Museen, Unterhaltungskultur, Kirchners Atelier und Papua-Neuguinea.
Dies und viel mehr ist dem folgenden Buch mit Beiträgen von 18 Autoren zu entnehmen: Kirchner und Nolde. Expressionismus. Kolonialismus. Hirmer Verlag, 2021, 256 Seiten mit 280 Abbildungen in Farbe. Das Buch bestellen bei Amazon.de.
Die Wander-Ausstellung Kirchner und Nolde: Expressionismus. Kolonialismus ist zu sehen/wird zu sehen sein in: Statens Museum for Kunst in Kopenhagen in Dänemark; Stedelijk Museum Amsterdam in den Niederlanden; Brücke Museum Berlin in Deutschland. Wegen der Corona-Pandemie kann es zu Verschiebungen kommen. Konsultieren Sie die Webseiten der drei Museen für genaue Daten und Öffnungszeiten.
Weitere Artikel: Emil Nolde im Zentrum Paul Klee in Bern sowie Emil Nolde – in Glut und Farbe; Ernst Ludwig Kirchner und die Erhabenheit der Berge sowie Ernst Ludwig Kirchner in der Bundeskunsthalle Bonn; Deutscher Kolonialismus – Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart.
Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.
Buchkritik / Rezension von Kirchner und Nolde: Expressionismus. Kolonialismus hinzugefügt am 17. Juli 2021 um 15:02 deutscher Zeit.