[Hinzugefügt 10.1.2022: Nur Stunden nachdem unser Artikel unten online war, stürmten Bolsonaro-Anhänger das Parlament, das Oberste Gericht und den Präsidentenpalast in Brasilia]
Der abgewählte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro (*1955) floh vor der Amtseinführung seines Nachfolgers nach Florida und hinterliess ein Bild der Verwüstung in seinem Heimatland – politisch wie auch im Alvorada-Palast, dem Amtssitz des Staatsoberhauptes.
Rosangela „Janja“ da Silva, die Ehefrau des neugewählten Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (*1945) führte ein Fernsehteam des Senders TV Globo durch den Alvorada-Palast. Teppiche und Fussböden in erbärmlichem Zustand, ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert lag auf dem Fussboden, zerbrochene Fensterscheiben, Wasserschäden an einer Zimmerdecke sowie ein total leer geräumter Bankettsaal waren zu sehen bzw. wurden gemeldet. Ex-Präsident Jair Bolsonaro soll Möbel und Kunstwerke aus dem Präsidentenpalast entwendet haben.
Jair Bolsonaro floh mit seiner Frau und ihrer gemeinsamen Tochter Laura nach Florida, wo bereits seine zwei erwachsenen Söhne Flavio und Carlos auf ihn warteten. Als Ex-Präsident hat Jair Bolsonaro nach dem Ende seiner Amtszeit weiterhin Anspruch auf Mitarbeiter auf Kosten der Steuerzahler. So liessen sich einige für den gesamten Januar 2023 eine Reise in die Vereinigten Staaten genehmigen.
Allerdings rannte und rennt Jair Bolsonaro nach seiner Abwahl nicht wie Donald Trump umher und behauptet wahrheitswidrig, er habe die Wahlen gewonnen. Anfang November 2022 hatte der abgewählte Staatschef Bolsonaro zudem das Ende der Strassensperren gefordert, die seine enttäuschten Anhänger gebaut hatten. Diese hatten zudem vor Militäreinrichtungen campiert und die Streitkräfte zur Intervention aufgefordert, um Bolsonaro an der Macht zu halten. Bolsonaro-Anhänger blockierten Strassen, darunter Autobahnen, setzten Busse und Lastwagen in Brand. Ermittler prüften zudem eine versuchte Erstürmung des Hauptquartiers der Nationalpolizei in Brasilia im Dezember, so die Nachrichtenagentur AP. Die meisten der 32 Verdächtigen in dem Fall hätten Kontakt zum Lager um Bolsonaro gehabt, sagten Beamte.
Der abgewählte Präsident rief wie erwähnt seine Anhänger zum Abbruch ihrer Aktionen auf, konnte sich allerdings nicht dazu durchringen, seinem Nachfolger zum Sieg zu gratulieren, sondern gab dies nur indirekt zu, indem er sagte, er habe sich immer an die Verfassung gehalten und gedenke, dies auch weiterhin zu tun. Erst als Bolsonaros Stabschef anschliessend erklärte, der abgewählte Präsident habe ihn ermächtigt, den Übergang zum frisch gewählten Präsidenten Lula da Silva einzuleiten, wurde klar, dass Jair Bolsonaro bereit war, seine Niederlage zu akzeptieren. Allerdings hatte er nicht den Mumm, bei der Vereidigung vseines Nachfolgers anwesend zu sein, so wie es der demokratische Brauch in Brasilien ist. Laut Presseberichten sollen ihm seine Anwälte geraten haben, das Land zu verlassen, denn er riskiert, im Gefängnis zu landen.
In Artikeln sowie in ihrem Buch O Negócio do Jair (Zahar, September 2022, 315 Seiten, portugiesisch; Kindle eBook bzw. Paperback bestellen bei Amazon.com, Amazon.co.uk, Amazon.fr, Amazon.de) hat die brasilianische Journalistin Juliana Dal Piva von der UOL Mediengruppe recherchiert, dass Jair Bolsonaro und seine Familie über 30 Jahre hinweg 107 Häuser, Wohnungen sowie Landstücke gekauft haben, von denen mindestens 51 bar bezahlt wurden. Die Ironie dabei ist, dass Jair Bolsonaro in die Präsidentschaftswahl 2018 mit dem Verbrechen einstieg, die Korruption zu bekämpfen. Dass der Mann nicht sauber ist, wusste man schon vor seiner Wahl. Er war während seiner langen Politikkarriere zwar bis zum Aufstieg ins höchste Staatsamt ein Hinterbänkler, doch ein korrupter, inkompetenter, homophober, frauenfeindlicher Waffennarr, Leugner des Klimawandels und Populist, der die Partei öfter als sein Hemd gewechselt hatte; Bolsonaro wechselte selbst als Präsident nochmals die Partei. Dabei behauptete er frech, er sei ein frisches Gesicht und ein Saubermann in der Politik. Wahr ist, dass unter Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff die schon zuvor existierende Korruption florierte, da Brasilien einen grossen Aufschwung erlebte, der auf einem weltweiten Rohstoffboom und einer darauf aufbauenden Umverteilungspolitik beruhte, wodurch Millionen Brasilianer der Armut entkamen. Die Schattenseite war die praktisch alle Parteien durchdringende Korruption. Stichworte dazu sind der Petrobras-Skandal, Operação Lava Jato und Mensalão-Skandal. Präsidentin Dilma Rousseff verlor ihr Amt, und Lula da Silva wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, verbrachte rund eineinhalb Jahre im Knast, ehe er 2019 einen Freispruch zweiter Klasse erhielt, wobei bis heute nicht klar ist, ob Lula Opfer eines Komplotts von Staatsanwälten, Richtern und Politikern war, die seine Wiederwahl verhindern wollten, ob und inwiefern Lula selbst korrupt war oder ob er einfach „nur“ bei der Selbstbereicherung anderer weggeschaut hatte.
Zurück zu Jair Bolsonaros Abschied aus Brasilia: Scheinbar gegen Tränen ankämpfend verkündete der abgewählte Politiker, er habe es leider nicht vermocht, einen legalen Weg zu finden bzw. genügend Rückhalt zu bekommen, um den Kurs der Geschichte zu ändern. „Wenn Ihr sauer seid, versetzt Euch mal in meine Lage. Ich habe mein Leben für dieses Land gegeben.“ Vor dem Abflug nach Flordia verurteilte er eine vorangegangene Bombendrohung in der Hauptstadt Brasilia. Er positionierte sich klar gegen Angriffe auf Menschen und rief seine Anhänger dazu auf, stattdessen eine Opposition gegen die kommende Regierung Lula aufzubauen. „Wir haben eine Schlacht verloren, aber wir werden den Krieg nicht verlieren.“ Bolsonaro meinte kämpferisch: „Die Welt endet nicht am 1. Januar.“ Doch die Enttäuschung bei seinen im strömenden Regen ausharrenden Anängern vor dem Präsidentenpalast war gross. Laut Presseberichten riefen einige „Verräter“ und „Feigling“.
Noch kurz zu den allgemeinen Wahlen vom Oktober 2022: Die Wahlbeteiligung bei der ersten Wahlrunde betrug 79,05%, bei der zweiten 79,41%. Die Stichwahl um die Präsidentschaft gewann Luiz Inácio “Lula” da Silva im Fotofinish gegen Jair Bolsonaro mit 50,9% gegen 49,1%. Lange sah Lula im Umfragen als der klare Sieger aus, doch bereits in der ersten Wahlrunde kam der Dämpfer, da es Lula mit 48,4% nicht über die 50%-Hürde und es Amtsinhaber Jair Bolsonaro auf unerwartete 43,2% brachte.
Der homophobe, frauenfreindliche Rechtspopulist Jair Bolsonaro konnte unter anderem wie bei seiner ersten Wahl und wie Donald Trump in den USA auf viele Evangelikale zählen, die rund 30% der brasilianischen Wähler ausmachen. Diese wählen den korrupten Bolsonaro, obwohl dieser und seine Familie wenig Respekt für biblische Prinzipien zeigen.
Warum hat Jair Bolsonaro das Resultat trotz enger Wahl akzeptiert? Vielleicht, weil sofort nach der Wahl die Chefs der Wahlbehörde, der Senatspräsident, der Generalstaatsanwalt sowie Richter des höchsten Gerichts gemeinsam vor die Fernsehkameras traten und Lula als Gewinner der Präsidenschaftswahl verkündeten, die fair und frei gewesen war. Sie wollten ein Desaster wie in den USA mit dem Sturm aufs Kapitol verhindern.
Der frühere Militär Jair Bolsonaro behauptete nicht, er habe gewonnen, und versuchte auch keinen Staatsstreich durchzuführen. Doch das Bolsonaro-Lager behauptete ohne Belege, es habe Probleme bei den elektronischen Wahlmaschinen gegeben. Dabei bezogen sie sich jedoch nur auf die Stichwahl vom 30. Oktober 2022. Warum? Weil das Bolsonaro-Lager am 2. Oktober in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl die stärkste Partei wurde. 2018 war Bolsonaro noch für die Sozialliberale PSL angetreten, 2021 in die Liberale Partei PL übergetreten, für die er 2022 antrat. Die PL gewann mit 16,64% und 99 Sitzen in der Abgeordnetenkammer mit insgesamt 513 Parlamentariern am meisten Stimmen und Sitze. Im Senat standen 27 der insgesamt 81 Sitze zur Wiederwahl. Jair Bolonsaros PL kam auch hier mit 25,4% und neu 13 von 81 Sitzen auf den ersten Platz. Alexandre de Moraes, der Präsident der nationalen Wahlbehörde, die das durchsichtige Manöver natürlich durchschaute, lehnte richtigerweise den Wahlprotest des Bolsonaro-Lagers ab.
War Luiz Inácio “Lula” da Silva die beste Wahl für Brasilien? Nein. Der alte Mann (*1945), der nach seinen ersten beiden Amtszeiten (2003-2010) zwar mit 89% Zustimmung als populärster Präsident Brasiliens abtrat, hatte vergessen, gegen die Korruption vorzugehen. Lula glaubt, der französische, populistische Linksausleger Jean-Luc Mélenchon sei ein toller Politiker. Er behauptete, Putin und Selensky seien beide für den Krieg in der Ukraine verantwortlich.
Trotzdem war natürlich die Wahl von Luiz Inácio “Lula” da Silva besser als die Wiederwahl von Jair Bolsonaro, der die Covid-Pandemie ignorierte, die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes geradezu vorantrieb, Rechte von Frauen und Minderheiten mit Füssen trat und sich auch sonst in vielerlei Hinsicht als unfähig und korrupt erwies. Doch was kann Lula heute erreichen? Der Schutz des Amazonas-Gebietes sowie dort lebender indigener Völker steht mit ihm wieder oben auf der Agenda. Deshalb hat er die dafür nun verantwortlichen Ministerinnen Marina Silva und Sônia Guajajara in sein Kabinett aufgenommen. Der Kontrast mit der Bolsonaro-Regierung könnten nicht grösser sein, unter der 2022 der Experte für indigene Völker Bruno Pereira sowie der Britische Journalist Dom Phillips im brasiliansichen Staat Amazonas ermordet wurden, weil sie sich der Zerstörung der Natur und der indigenen Völker entgegen stellten. Andere Prioritäten von Lula da Silva heissen soziale Gerechtigkeit und nationale Versöhnung, was schwierig wird.
Von 2003 bis 2010 entkamen viele der heute insgesamt rund 215 Millionen Brasilianer der Armut. Doch damals halfen ein weltweiter Rohstoffboom sowie darauf beruhende Transferzahlungen wie das populäre Wohlfahrtsprogramm Bolsa Família der Sozialpolitik und dem Aufschwung unter Lula. Doch heute sieht die Lage anders aus. Umverteilung wird Brasilien nicht retten.
Was bedeutet eine aktive Industriepolitik heute? 2020 hatte Brasilien den weltweit neuntgrössten industriellen Sektor. Hinzu kommt die Agrarwirtschaft. Eisenerz, Soyabohnen, Öl und andere Rohstoffe alleine können Brasilien keine rosige Zukunft garantieren. Lula da Silva scheint als Sozialist, Mitglied der Arbeiterpartei und ehemaliger Gewerkschafter erneut auf Umverteilung zu setzen. Haushaltsdisziplin und Kampf der Korruption scheinen nicht zuoberst auf seiner Agenda zu stehen. Brasiliens Arbeitslosenquote liegt bei rund 8,3%, die Inflation bei 6%, die Zinsen bei 13,75%. Hinzu kommen Staatsschulden von rund 90% des BIP. Eine im Kongress bereits in Teilen diskutierte Steuerreform scheint notwendig. Noch wichtiger wären eine bessere Schulbildung und eine bessere Ausbildung der Arbeitskräfte, damit die Produktivität steigt. Nicht vergessen werden darf, dass Präsident Lula da Silva und die ihm nahe stehenden Parteien weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat über eine Mehrheit verfügen. Die neue Amtszeit wird schwierig.
Foto von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (*1945). Photo (cropped): Argentinian President Alberto Fernández held a meeting this noon at the InterContinental Hotel in São Paulo with the president-elect of the Federative Republic of Brazil, Luiz Inácio Lula da Silva, who the day before won the election against Jair Bolsonaro. Date: October 31, 2022. Source: Casa Rosada via Wikipedia.
Artikel vom 8. Januar 2023 um 16:06 deutscher Zeit. Korrektur um 16:12: „Schulbildung“ nicht „Schuldbildung“.