Paul Klee: Ich will nichts wissen

Sep 03, 2021 at 11:07 1458

Der Katalog Paul Klee: Ich will nichts wissen erschien zur Forschungsausstellung im Zentrum Paul Klee (ZPK) in Bern, die am 29. August 2021 endete. Zu spät? Nein. Bei der Ausstellung handelt es sich um eine Kooperation des ZPK mit seinen rund 4000 Werken von Klee und dem grössten Teil des Klee-Archivs mit dem LaM, Lille Métropole Musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art brut in Villeneuve-d’Ascq. Dort wird sie – sofern es die Pandemie erlaubt – unter dem Titel Paul Klee, entre-mondes vom 19. November 2021 bis am 27. Februar 2022 zu sehen sein.

Das ZPK beleuchtet in Paul Klee: Ich will nichts wissen erstmals anhand von Werken des Künstlers sowie privaten Dokumenten und Objekten die vielseitigen Quellen, die den Künstler in seiner Suche nach «unverbildeter Unmittelbarkeit» bestärkten. Ausstellung und Katalog werfen einen kritischen Blick auf die ideologischen Denkmuster der Moderne, insbesondere auf die Vorstellung einer «ursprünglichen» Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa.

Jene Zeit war von politischen und wirtschaftlichen Krisen geprägt, die zu gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen führte. In den Künsten führte dies zu einem Bruch mit den vorherrschenden politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Normen.

Nach einem unproduktiven akademischen Kunststudium in München und einer ebenso enttäuschenden Bildungsreise durch Italien im Winter 1901/1902 kehrte Paul Klee in seine Heimatstadt Bern zurück, um seine künstlerische Ausbildung im Selbststudium fortzusetzen. Er kam zu der Einsicht, dass er
in einer „epigonischen Zeit“ lebe, der es an Kreativität mangle und in der „das Gebiet des Idealen in der bildenden Kunst unzeitgemäss ist“ für den zeitgenössischen Künstler. 1902 notierte in sein Tagebuch: „Wie neugeboren will ich sein, nichts wissen von Europa, gar nichts. Keine Dichter kennen, ganz schwunglos sein; fast Ursprung.“

Paul Klee versuchte durch das Studium und das Sammeln von Kinderzeichnungen, darunter seine eigenen sowie die seines Sohnes Felix, psychopathologischer Kunst (damals Kunst der «Geisteskranken» genannt), Art Brut sowie prähistorischer und nichteuropäischer Kunst den Weg zu den «Uranfängen von Kunst» und zu neuen künstlerischen Ausdrucksformen zu finden.

Der junge Paul Klee stellte radikal alles in Frage, was bis dahin an den europäischen Kunstakademien gelehrt wurde. Er machte sich auf die Suche nach künstlerischen Ausdrucksformen, die nicht den dominierenden westlichen Kunstvorstellungen entsprachen. In den 1910er- und 1920er-Jahren verkehrte er mit Vertretern der Künstlergruppe der Blaue Reiter, Dadaisten (Tristan Tzara, Max Ernst, Hans Arp) und Surrealisten, die ebenfalls begannen, Kinderzeichnungen, Kunstwerke von Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung, nichteuropäische und prähistorische Kunst zu sammeln und zu studieren. In Publikationen und Ausstellungen kombinierten sie diese künstlerischen Produktionen mit eigenen Werken, so der Blaue Reiter ab 1911.

In Bern wird zudem ein Blick auf Klees Bauhaus Jahre (siehe auch Klee and Kandinsky) geworfen, wo er selbst Ausstellungen von Kinderzeichnungen organisierte. Auch ein Blick im ZPK auf die Rezeption seiner Kunst in den USA in den 1930er Jahren (siehe auch Klee and America) darf nicht fehlen. Das Museum of Modern Art in New York präsentierte bereits 1937 seine Werke im Kontext prähistorischer Kunst.

Avangardisten wie Paul Klee waren von allem fasziniert, was nicht der westlichen Norm entsprach. Für heutige Ausstellungsmacher – siehe auch Kirchner und Nolde. Expressionismus. Kolonialismus – resultierte diese Faszination für das «Andere» und die in der Kunst daraus resultierende Entwicklung neuer, abstrahierender Bildwelten aus dem kolonial-rassistischen Zeitgeist heraus.

Die europäische Avantgarde wählte bewusst eine reduzierte, «primitive» Bildsprache und betonte dies ausdrücklich. Doch diese Künstler sprachen laut Fabienne Eggelhöfer in ihrem Katalogbeitrag in Paul Klee: Ich will nichts wissen als psychisch krank diagnostizierten Menschen, Kindern sowie prähistorischen und indigenen Gesellschaften solche bewussten Entscheidungen ab, stuften sie als unmündig und handlungsunfähig ein.

Ausstellung und Katalog wollen das «westliche Konstrukt Primitivismus» (Livia Wermuth) hinterfragen, einen Einblick in die aktuelle Forschung zum Thema geben und Fragen formulieren, die es in Zukunft zu klären gilt. Diese forderte aufwendige Recherchen im Klee-Archiv. So in den Büchern aus seiner Bibliothek, in Schriften und Briefwechseln. Das LaM steuerte seine Expertise insbesondere zur Art Brut bei.

Im Katalog finden sich Beträge zu Themen wie Paul Klees Suche nach den Uranfängen der Kunst, Paul Klee und die Formen der Kindersprache, Art Brut, Jean Dubuffet und Paul Klee, die Psychologie der Kunst, der schöpferische Prozess, Weltkunst – mit einer Spurensuche im Archiv Paul Klee, eine Chronologie und vieles mehr.

Publikation: Paul Klee: Ich will nichts wissen. Hrsg. von Zentrum Paul Klee in Bern, LaM – Lille Métropole Musée d’art moderne, d’art contemporain et d’art brut, Editions Flammarion, mit Beiträgen von Christophe Boulanger, Sébastien Delot, Fabienne Eggelhöfer, Jeanne-Bathilde Lacourt, Morad Montazami, Osamu Okuda, Grégoire Prangé, Maria Stavrinaki und Livia Wermuth. Editions Flammarion, 2021, 208 Seiten mit 190 Abbildungen. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

Zitate und Teilzitate in dieser Buchkritik / Rezension sind der besseren Lesbarkeit wegen nicht zwischen Anführungs- und Schlussszeichen gesetzt.

Rezension / Buchkritik von Paul Klee: Ich will nicht wissen vom 3. September 2021 um 11:07 Schweizer Zeit.