Richard C. Schneider: Die Sache mit Israel

Aug 01, 2023 at 13:30 1183

In seinem neuesten Buch Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land (Amazon.de) beantwortet der langjährige, seit über 18 Jahren in Israel lebende ARD-Korrespondent und SPIEGEL-Autor Richard C. Schneider fünf Fragen: Ist Israel eine Demokratie? Ist Israel ein Apartheidstaat? Ist Kritik an Israel antisemitisch? Ist Israel ein fundamentalistischer Staat? Gehört Palästina den Palästinensern?

In seinem Prolog schreibt Richard C. Schneider zurecht, dass die israelische Gesellschaft über Jahre und Jahrzehnte ausgeblendet hat, was in den besetzten Gebieten geschieht. Dass radikale Siedler immer wieder das Gesetz selbst in die Hand nehmen, wusste jede Regierung, wusste auch die Armee seit Langem. Abgefackelte Olivenhaine waren dabei noch das geringste Übel. Seit in der aktuellen Regierung mit Otzma Yehudit und Religiöser Zionismus zwei Parteien an der Macht sind, die ideologisch aus der Siedlerbewegung stammen oder ihr sehr nahestehen (ich schrieb von Extremisten in der Regierung), fühlten sich die Siedler von ganz oben gedeckt. Zudem greifen Siedler immer häufiger die eigene Armee an, die ihre Ausschreitungen gegen Palästinenser zu stoppen versucht.

Richard C. Schneider verweist auch auf die Koalition von 2021 (unter Premierminister Naftali Bennett), die versuchte, den in drei Fällen wegen mutmasslicher Korruption angeklagen Langzeit-Premier Bejamin Netanyahu von der Macht fernzuhalten, weil sie ihn für einen Lügner und Opportunisten hielten, der nur noch eines im Sinn hatte: einer drohenden Gefängnisstrafe zu entgehen, koste es, was es wolle (genau so ist es).

Richard C. Schneider unterstreicht in Die Sache mit Israel (Amazon.de), dass die Koalition aus acht Parteien entschieden hatte, das heikelste Thema nicht anzutasten: die Frage, was mit den Palästinensern und den besetzten Gebieten geschehen soll. Die ideologischen Gräben waren zu tief, um dieses heisse Eisen anzufassen. Die eigentliche Sensation war laut Richard C. Schneider jedoch, dass sieben jüdische Parteien zum ersten Mal in der Geschichte Israels eine arabische Partei in die Regierung aufnahmen, denn sie brauchten diese, um eine Mehrheit in der Knesset zu haben. Zugleich – so schien es zumindest – war dies ein Aufbruch zu etwas ganz Neuem. Rund zwei Millionen Palästinenser bzw. rund 20% der Gesamtbevölkerung sind israelische Staatsbürger.

Laut Richard C. Schneider was dies möglich geworden, weil Benjamin Netanyahu selbst zuvor eben diese Partei, die UAL (United Arab List) des Mansour Abbas, in die Regierung holen wollte. Für den Machterhalt wollte er die bittere Pille schlucken und Araber in seine rechte Regierung eingliedern. Er scheiterte. Mansour Abbas entschied sich für Yair Lapid und Naftali Bennett als Koalitionspartner, die ihn nur deshalb aufnehmen konnten, weil Benjamin Netanyahu dies zuvor erfolglos versucht hatte und sie nun schlecht als Verräter an der zionistischen Sache beschimpfen konnte.

All das scheint nach Richard C. Schneider eine Ewigkeit her zu sein, denn Benjamin Netanyahu hat seither alle Tabus gebrochen: Er holte mit Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich zwei Rechtsextreme, die Araber hassen, in die Regierung. Der ARD-Korrespondent weist darauf hin, dass ein grosser Teil der aktuellen Regierung nicht viel von der Formel hält, dass Israel ein demokratischer und jüdischer Staat ist. Für sie ist nur entscheidend, dass Israel jüdisch ist, mit »demokratisch« können und wollen sie nichts anfangen. Minderheiten, egal ob Palästinenser, LGBTQ+ oder andere, sind ihnen nicht wichtig, auch Frauen nicht. Der Schutz der Minderheiten, ein demokratisches Grundprinzip, könnte in Zukunft keine Rolle mehr spielen.

Richard C. Schneider beschreibt in seinem im März 2023 abgeschlossenen Manuskript zudem die enormen Zugeständnisse, die Ben Gvir und Smotrich dem Premier Netanyahu abringen konnte.

Dem Autor nicht folgen kann ich, wenn er schreibt, von Israel könne man etwas lernen, was in der deutschen Gesellschaft kaum vorhanden sei: die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten. Zu begreifen, dass sowohl das eine als auch dessen Gegenteil »wahr« sei oder zumindest nebeneinander existieren könne, ja existieren müsse, damit es zu keiner Kollision komme. Ambivalenz als ein Modus Vivendi, der von jedem Einzelnen äusserste Flexibilität und Einfühlungsvermögen verlange, aber auch die Fähigkeit, Dinge einfach stehen zu lassen, die man eigentlich nicht ertrage, aber zu ertragen lernen müsse, damit das Leben weitergehen könne. Da irrt Richard C. Schneider. Genau das ist Israels Problem: Entweder setzt sich der Rechtsstaat durch, oder die Demokratie geht den Bach – pardon: Jordan – runter. Ein sowohl als auch kann es nicht geben. Gewisse Grundprinzipien müssen für alle Menschen in Israel gelten.

Die fünf Fragen, die sich der Autor in seinem Buch stellt, seien die entscheidenden, die mit der Existenz des Staates Israel zusammenhängen. In seinem Kapitel zur Frage, ob Israel eine Demokratie ist, zitiert Richard C. Schneider den Anfang des Textes der israelischen Nationalhymne: »Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem!«

Dass sich die rund zwei Millionen arabischen Israeli damit nicht identifizieren können, ist offensichtlich. Das gilt ebenfalls für den Davidstern auf der Nationalflagge. Die beiden blauen Streifen in der Flagge sind zudem eine Anspielung auf den Tallit, den Gebetsschal, den religiöse Juden tragen. Sie können sich kaum mit dem Staat identifizieren, denn Israel ist eine »ethnische Demokratie«, wie der israelische Soziologe Sammy Smooha das nennt.

Richard C. Schneider erzählt dabei von seiner Freundin Ranyia, die den Hijab trägt und dabei als Lehrerin in einer Schule in Tel Aviv arbeitet, wo sie nicht etwa Arabisch, sondern Hebräisch unterrichtet. Dabei ist das Tragen des Kopftuches, anders als in Deutschland – oder insbesondere in Frankreich, das der Autor hier ebenfalls hätte anführen können -, absolut kein Thema.

In Israel käme niemand auf die Idee, den Ruf des Muezzin unterdrücken zu wollen – höchstens am frühen Morgen gegen 4 Uhr 30, wenn auch jüdische Menschen vom »Allahu akbar« aus den Lautsprechern der Moscheen aus dem Schlaf gerissen werden. Dann gibt es Beschwerden. Wegen der unterbrochenen Nachtruhe, nicht wegen des islamischen Gebets, so Richard C. Schreiber.

Auch wenn sich Araber nicht mit dem israelischen Staat identifizieren können, so wissen sie dennoch, dass sie trotz allem privilegiert sind, denn in Israel haben sie mehr bürgerliche Rechte als in den meisten muslimischen Ländern, insbesondere die Frauen. Zumindest vor dem staatlichen Gesetz. Was sonst in ihrer Community geschieht, steht auf einem anderen Blatt. Richard C. Schneider unterstreicht, dass sich seine Freundin Ranyia dennoch unfrei fühlt, weil Israel nicht ihr Land ist, Staatsbürgerschaft hin oder her.

Israel propagiert klar das zionistische Ideal eines jüdischen und nicht israelischen Nationalismus, der alle Bevölkerungsgruppen beinhalten würde. Selbst wenn Araber in Israel eigene Institutionen in Sachen Religion, Medien, Kultur, Erziehung und sogar in der Kommunalpolitik haben, so werden diese dennoch vom Staat kontrolliert. Richard C. Schneider führt zudem aus, dass der Zionismus als liberale Bewegung begonnen hat, weshalb die nichtjüdischen Staatsbürger die bürgerlichen Freiheiten, die demokratischen Grundrechte, die in Israel auch Teil der »Basic Laws« sind, eine Art Grundgesetz, selbstverständlich ebenfalls geniessen. Zumindest de iure.

Ein Fünftel der israelischen Staatsbürger steht unter Dauerverdacht, gegen den Staat zu agitieren, möglicherweise sogar mit Waffengewalt und Terror. Das geschieht auch immer wieder, wenngleich sehr viel seltener, als Rechtsnationale dies darstellen, so Richard C. Schneider. Das Misstrauen gegenüber den arabischen Israelis wird geschürt und wächst, reziprok zu einer anderen Entwicklung: Mehr und mehr israelische Araber werden Teil der israelischen Kultur, ob sie wollen oder nicht, ob die jüdischen Israelis das wollen oder nicht.

In der Folge des Unabhängigkeitskrieges von 1948 standen die rund 150 000 Araber, die damals in Israel geblieben waren, bis 1966 unter Militärrecht. Das Widersprach den Idealen einer Demokratie. Richard C. Schneider verweist darauf, dass die Situation allerdings einzigartig war, denn fünf arabische Armeen hatten sich damals gegen Israel verbündet und versucht, den jüdischen Staat zu zerstören, noch ehe er so richtig existierte. Im Verlauf dieses Krieges flohen rund 750 000 Araber aus dem Gebiet, das heute als Kernland Israels bezeichnet wird. Sie wurden von den Israelis vertrieben, es gab aber auch Aufrufe zur Flucht von arabischen Staaten, damit die arabische Armee durchmarschieren könnte, um die Zionisten zu vernichten. Doch nicht alle Araber flohen oder wurden vertrieben. Einige blieben, manche kehrten nach dem Krieg zurück.

An anderer Stelle erwähnt der Autor, dass 1948, im Unabhängigkeitskrieg Israels, den die Palästinenser »Nakba«, die Katastrophe, nennen, etwa 750 000 Araber flohen, von denen rund die Hälfte von israelischen Soldaten vertrieben wurden, wie der israelische Historiker Benny Morris dies in seinem Buch The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949 (Amazon.de) belegt.

Nach dem Waffenstillstand gewährte Israel 60 000 von den 150 000 Arabern sofort die Staatsbürgerschaft. Andere bekamen sie etwas später, sie mussten erst bestimmten Kriterien entsprechen. Richard C. Schneider verweist darauf, dass der Staatsgründer und erste Premierminister Israels, David Ben Gurion, diesen 150 000 Menschen die Staatsbürgerschaft nie gegeben hätte: »Diese Araber sollten hier nicht leben. Jeder, der glaubt, dass die Araber ein Anrecht auf die Staatsbürgerschaft im jüdischen Staat haben, meint damit, dass wir de facto unsere Koffer packen und gehen sollten.« Das war derselbe Ben Gurion, der noch 1937 auf dem 20. Zionistenkongress von »einem Gesetz für den Fremden und den Staatsbürger« gesprochen hatte, der erklärte, dass der »jüdische Staat ein Vorbild für die Welt im Umgang mit Minoritäten und Ausländern« sein werde. David Ben Gurion wurde in dieser Frage von seiner eigenen Partei, der Mapai, überstimmt. Das liberal-demokratische Prinzip siegte über die ethno-nationale Überzeugung. Doch dieser Konflikt sollte sich laut dem Autor durch die gesamte Geschichte Israels ziehen. Er verweist zudem auf Theodor Herzl, der von der absoluten Gleichberechtigung der arabischen Bürger im jüdischen Staat, die sich am Aufbau des Gemeinwesens genauso beteiligen sollten wie die Juden, geträumt hatte.

Richard C. Schneider notiert nüchtern, dass die Versuche, zwischen Palästinensern und Israelis Frieden zu schaffen, inzwischen komplett gescheitert sind.

Er unterstreicht im letzten Kapitel zudem die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz des Zionismus: Als säkulare Bewegung begonnen, ist der Zionismus dennoch eine Ideologie, die das religiöse Element von Anfang an in sich getragen hat, allein dadurch, dass das jüdische Volk nach Zion zurückkehrte, in das Land, das Gott ihm »verheissen« hatte.

Dies sind nur einige ganz wenige Details aus dem Prolog sowie dem Kapitel zum Thema, ob Israel eine Demokratie ist. Richard C. Schneider hat ein lesenwertes, nuancenreiches Buch geschrieben. Nur noch eine Stelle gegen Ende seines Werkes soll hier zitiert werden: Natürlich gebe es noch immer Gegner Israels, die behaupteten, die Juden seien keine Nation, nicht einmal ein Volk, sondern lediglich eine Glaubensgemeinschaft, eine Religion.

Dem wäre hinzuzufügen, dass ein gewisser Bruno Kreisky so dachte, wobei der österreichische Bundeskanzler berüchtigt war für Ausfälle gegenüber anderen Juden sowie für seine kritische Haltung gegenüber dem Staat Israel, die man einem nichtjüdischen Kritiker als kruden Antisemitismus angekreidet hätte.

Richard C. Schneider: Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land. DVA, Hardcover mit Schutzumschlag, April 2023, 192 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, ISBN: 978-3-421-07010-4. Das Buch als Hardcover, Hörbuch oder Kindle eBook bestellen bzw. runterladen bei Amazon.de.

Siehe von Richard C. Schneider ebenfalls das Buch Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel aus dem Jahr 2018. Rezension. Das Buch bestellen bei Amazon.de.

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Rezension/Buchkritik vom 1. August 2023 um 13:30 deutscher Zeit.