Robin Alexander: Machtverfall

Jul 08, 2021 at 19:30 1142

Das Buch Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report von Robin Alexander (*1975; politischer Journalist bei der Welt) handelt, wie der Titel schon sagt, vom Ende der Ära Merkel. Er schreibt zu Beginn unsauber, wäre Trump nicht US-Präsident geworden, hätte die Kanzlerin darauf verzichtet, bei der Bundestagswahl ein paar Monate später erneut anzutreten.

Warum unsauber? Robin Alexander selbst verdankt diese „Erkenntnis“ Barack Obama, der kurz vor dem Ende seiner Amtszeit extra nochmals nach Berlin zu Merkel flog, und das dreistündige Gespräch mit der Kanzlerin im Adlon später seinem Redenschreiben Ben Rhodes schilderte. Der Journalist der Welt zitiert daraus: Sie fühle sich nach Trumps Wahl noch mehr verpflichtet, soll Merkel gesagt haben, für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, um die liberale internationale Ordnung zu verteidigen. Nochmals: Merkel sagte: „noch mehr“. Sie sagte nicht, nur wegen Trump trete sie nochmals an. Wie auch immer, Robin Alexander hat ein detailreiches Buch geschrieben, dessen Lektüre sich lohnt.

In Machtverfall schreibt der Autor, wie die Kanzlerin nach der Wahl Trumps zur letzten Verteidigerin des freien Westens stilisiert wurde. Diese Mission passte zu Merkel eigentlich am allerwenigssten, so Robin Alexander. Sie habe bis dahin zwölf Jahre lang sehr kleinteilig regiert, eher mit Blick auf den nächsten Koalitionsausschuss als auf den Eintrag ins Geschichtsbuch. Historisch sei allenfalls ihre Flüchtlingspolitik gewesen, in die sie ungeplant hineingestolpert sei und die sie fast ihr Amt gekostet habe. Hierzu Die Getriebenen von Robin Alexander lesen.

Unser Autor führt in Machtverfall zudem an, Merkel habe sich nie für unentbehrlich gehalten (dem widerspreche ich entschieden! 16 Jahre an der Macht!), sie wollte zudem den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg aus der Politik finden, wie sie der Fotografin Herlinde Koelbl für deren Buch Spuren der Macht erzählte. Das habe sie später bereut, so Robin Alexander, da noch kein Kanzler den Abgang aus freiem Willen geschafft hat. Der Journalist schreibt, die Frage, ob sie den richtigen Zeitpunkt zum Ausstieg aus der Politik verfehlt habe, als sie sich, unter dem Eindruck von Trumps Wahl, zum Weitermachen entschloss, müsse sie umgetrieben haben. Ihr Ehemann Joachim Sauer soll bei ihrem Entschluss zum Weitermachen eine entscheidende Rolle gespielt haben, so jedenfalls haben es Merkel-Vertraute im Kanzleramt berichtet. Er habe seiner Frau gesagt, ihr Wunsch, die Erste zu sein, die freiwillig das Kanzleramt verlasse, sei eitel. Bei ihrer Überlegung, ob sie weitermache oder nicht, dürfe diese Eitelkeit gerade nicht den Ausschlag geben.

Robin Alexander bemerkt die hängenden Mundwinkel der Kanzlerin, die Spuren der Macht – oder Ohnmacht? Er vergisst auch nicht ihre öffentlichen Zitteranfälle vor zwei Jahren, die selbst den Schreibenden geschockt haben, der seit 2012 der Meinung ist, dass Merkel entbehrlich ist; Merkel muss weg hat also nichts mit der AfD zu tun.

Zurück zu Machtverfall. Robin Alexander schreibt, durch ihren Antrittsbesuch bei Trump im Weissen Haus, bei dem sie der amerikanische Präsident mehrfach demütigte, sei sie durch einen entscheidenden Blick, bei dem sie kurz ihre Verachtung für Trump zeigte, der sofort millionenfach im Netz geteilt wurde, plötzlich zur Heldin der liberalen Amerika und des liberalen Teils der restlichen Welt geworden. Ihre letzte Amtszeit finde darin – und nur darin – ihren Sinn.

Die Rede in Cambridge an der Ostküste der USA am 30. Mai 2019 auf der Graduiertenfeier der Universität Harvard vor 20000 Gästen bezeichnet Robin Alexander als Merkels beste. Die älteste Universität der USA ist Anti-Trump-Land. In die Bewunderung schleichen sich ein paar Schönfärbereien
ein, so der Autor. Doch „ein paar Schönfärbereien“ ist ein Euphemismus. Machtverfall gilt als kritisches Merkel-Buch, dabei ist es noch immer viel zu mild mit einer Kanzlerin, die nach 16 Jahren einen Reformstau hinterlässt.

Robin Alexander erwähnt (weitgehend zurecht), dass Merkel die Mehrzahl der Errungenschaften ihrer Kanzlerschaft vom sozialdemokratischen Koalitionspartner und einer Gesellschaft, die längst moderner war, als es die CDU wahrhaben wollte, mühsam abgerungen werden mussten. In Harvard habe das niemanden interessiert, und auch Historiker würden über manche Details hinwegsehen. Details? Na ja.

Der Autor erwähnt Ehe für alle, Abschaltung der Atomkraftwerke, Bekämpfung des Klimawandels, Heimat für eine Million Kriegsflüchtlinge, Mindestlohn. Doch ist der Mindestlohn eine Errungenschaft? Der Lohn ist ein Preis, der vom Staat nicht einseitig festgelegt werden kann, sondern durch den Markt bestimmt werden sollte. Das nennt man Marktwirtschaft. In Deutschland ist es nicht zu Verwerfungen gekommen, weil der Mindestlohn tief genug angesetzt wurde, und weil Deutschland ohnehin unter einem Niedriglohnsektor leidet, den der sozialdemokratische Kanzler Schröder u.a. mit Hilfe des jetzigen SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz eingeführt hat, woran sich die Sozis zur Zeit nicht erinnern möchten.

Klimawandel? Unter Merkel ging und geht es weiter mit Braunkohle. Kriegsflüchtlinge? Kaum war die rund eine Million an Vertriebenen – Flüchtlinge haben einen speziellen Status! Hans Georg Maassen fragen, denn in dieser Frage liegt dieser richtig – in Deutschland, da pilgerte Merkel gerade noch vor den Wahlen 2015 in die Türkei zu Erdogan, um diesem die Stiefel zu lecken und so mit zum Wahlsieg zu verhelfen. Robin Alexander ist nicht nur zu milde, sondern die Wahrheit ist viel düsterer, die Faktenlage trauriger.

Weiter mit Machtverfall. Für Robin Alexander wird die Kanzlerin als Gegenspielerin von Donald Trump in die Geschichte eingehen. Er zitiert in der Folge aus Merkels Harvard-Rede u.a.: «Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir es gemeinsam angehen… In Alleingängen wird das nicht gelingen.» Doch in der Migrationskrise wagte sie den Alleingang. Zuerst waren noch Österreich und Schweden in der EU mit Deutschland unterwegs, doch rasch stand Merkel alleine da. Man kann einwenden, sie habe Europas Ehre gerettet, denn es ist erbärmlich, dass rund 500 Millionen Europäer nicht in der Lage waren, eine Million Flüchtende aufzunehmen, sich gleichzeitig aber immer wieder als Erfinder und Verteidiger der Menschenrechte aufspielen (insbesondere die Franzosen). Doch es bleibt Merkels Alleingang. Und kurz darauf pilgerte sie wie erwähnt zu Erdogan, um radikal umzuschwenken, liess sich aber gleichzeitig weiterhin als Retterin feiern.

Robin Alexander ist der Meinung, Merkel habe über Trump gesiegt. Trump ist abgewählt worden. Die NATO ist nicht zerbrochen. Die USA sind dem Klimabkommen wieder beigetreten. Trumps endlose
Lügen über eine angebliche Fälschung der Wahl sowie der Sturm aufs Kapitol durch einen Mob haben den Donald endgültig ins Unrecht gesetzt. Steve Bannons Versuch, in Europa eine rechtsradikale Revolution anzustacheln, ist gescheitert. Kellyanne Conways alternative Fakten haben sich nicht durchgesetzt. Mit Joe Biden sitzt wieder ein verlässlicher Politiker im Weissen Haus. Merkels historische Mission ist erfüllt, so Robin Alexander.

Ich wäre da vorsichtiger, denn vieles hat sich festgesetzt. Zu viele Republikaner glauben zu viele von Trumps Lügen. In Europa lügen Boris Johnson, Viktor Orban und viele andere munter weiter. Wie einst die Dolchstosslegende könnten Trumps ständig wiederholte Lügen langfristig doch noch brutal durchschlagen. Sicher ist das natürlich nicht, doch vieles wirkt heute noch nach.

Robin Alexander sieht Merkel heute nicht mehr im Ringen mit Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping, Boris Johnson und Recep Tayyip Erdogan, sondern mit Armin Laschet, Markus Söder, Bodo Ramelow und Reiner Haseloff. Die Kanzlerin kämpft gegen Covid-19 sowie die Tücken des Föderalismus. Es geht zudem um ihr Erbe und die CDU als letzte Volkspartei Europas, so unser Autor. Unter uns: Merkel hat die CDU auf zur Zeit unter 30% runtergewirtschaftet, der illiberale Viktor Orban kommt auf bedeutend mehr Wähler. Und er ist in Europa nicht allein.

Robin Alexander erwähnt zurecht, dass ausgerechnet Donald Trump, Boris Johnson und Benjamin Netanjahu, die nach Merkels (und meiner) Meinung auf der falschen Seite der Geschichte stehen, mehr Impfstoff besorgen konnten als sie.

Unser Autor schreibt, auch die Corona-Tests hat Merkels Regierung zu spät besorgt. Schulen und Kitas haben Anfang März 2021 wieder aufgemacht, ohne die versprochenen Schnelltests erhalten zu haben. Bei Aldi und Lidl standen sie zu diesem Zeitpunkt längst im Regal. «Uns ist das Ding entglitten», hat Merkel Anfang des Jahres zugeben müssen.

Doch dann muss ich Robin Alexander erneut widersprechen, wenn er schreibt: Ihre Staatskunst hatte bislang in erfolgreicher Krisenbewältigung bestanden. Nein! Finanzkrise, Klimakrise (besser: Umweltverschmutzung), Digitalisierung, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Infrastruktur, Steuersystem, etc. Nichts hat sie erfolgreich bewältigt, reformiert.

Danach wird unser Autor kritischer und spricht den Ausnahmezustand unter Merkel während der Pandemie an. Restaurants und Theater wurden geschlossen. Die Hotels, die ohne Not und wissenschaftliche Grundlage geschlossen wurden, vergisst er. Dafür erwähnt er Büros und Spielplätze, die leer bleiben, das eingeschränkte Demonstrationsrecht, die suspendierte Religionsfreiheit, Kinder, die nicht mehr zur Schule gehen, Grosseltern, die allein zu Hause beiben, etc. Er folgert: So viel Staat war nie. Aber auch nie so viel Staatsversagen. Je länger die Pandemie dauert, desto radikaler setzt Merkel auf den kompletten Lockdown. Am Ende regiert sie vor allem mit Appellen und Verboten – vielleicht auch deswegen, weil sie realisiert, was alles in dem von ihr seit 16 Jahren regierten Land nicht klappt. Als ihre Macht verfällt, klammert sie sich umso fester an ihre Autorität. Aber auch die schwindet zusehends.

Doch dem muss man entgegnen: Würde der Regierungschef in Deutschland direkt vom Volk gewählt, die Deutschen würden noch heute Merkel wählen. Sie liegt in Umfragen nach wie vor an der Spitze in der Kanzlerfrage. Es ist verrückt.

Robin Alexander schreibt, sogar die Regierenden selbst gehen sich auf die Nerven. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wettert gegen SPD-Finanzminister Olaf Scholz, als sie um milliardenschwere Härtefallfonds für angeschlagene Firmen streiten: «Sie sind nicht der König von
Deutschland oder der Weltenherrscher. Da brauchen Sie gar nicht so schlumpfig herumzugrinsen!» Wenige Wochen zuvor hatte der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow erzählt, dass er während der Sitzungen mit Merkel Candy Crush auf seinem Handy spiele. Andere Teilnehmer würden Sudokus lösen. Das Gremium, mit dem Merkel Deutschland durch die Corona-Krise steuert, ist zur Lachnummer geworden. Eben noch als letzte Heldin der freien Welt verehrt, von den Liberalen in New York, London oder Tel Aviv als kluge, den Werten der Aufklärung verpflichtete Staatenlenkerin gefeiert, sieht die
Weltöffentlichkeit in ihr plötzlich die müde Regentin eines risikoscheuen, überbürokratisierten, technisch abgehängten Landes, so unser Autor. Viele deutsche Medien, die lange nibelungentreu das Lied der besten Kanzlerin des besten Landes der Welt sangen, wenden sich nun von ihr ab. Robin Alexander folgert: Der Ausgang der Bundestagswahl im Herbst ist offen wie nie. Wer Angela Merkels Erbe antritt, auch.

Machtverfall wurde im Mai veröffentlicht. Heute, im Juli 2021, sind die Maskenaffären von CDU- und CSU-Politikern und das Regierungschaos in den Hintergrund gerückt. Zur Zeit steht die Implosion von Annalena Baerbock im Vordergrund, die seit ihrer Wahl als Kanzlerkandidatin der Grünen peinliche Schwächen zeigt. Übrigens weniger wegen ihrem Buch, das wegen Plagiaten kritisiert wird – Guttenberg schrieb eine Dissertation, Baerbock ein als Wahlkampfbeitrag gedachtes, politisches Buch -, sondern weil sie die deutsche Nachkriegsgeschichte und die soziale Marktwirtschaft nicht kennt. Im Moment sieht es für Laschet besser aus. So gut wie noch nie. Doch gewählt wird im September.

Trotz sehr viel Kritik von mir oben, die Lektüre von Machtverfall lohnt sich, weil Robin Alexander in der Folge den Machtkampf zwischen Söder und Laschet in Zeiten der Pandemie beschreibt, während dem die Autorität der Kanzlerin sank. Schäuble schaltete sich mehrfach entscheidend für Laschet und gegen Söder ein. Das war allgemein bekannt. Laut unserem Autor erhielt Armin Laschet nicht den Segen der Kanzlerin. Merkel wünschte sich eine Frau als Nachfolgerin. Als sie mit AKK gescheitert war, verkündete sie, sich nicht (mehr) in die Nachfolgedebatte einzumischen. Daran habe sie sich bis zum Ende eisern gehalten, so Robin Alexander. Ich dachte, Merkel habe Söder verhindern wollen und daher Laschet zumindest indirekt bevorzugt. Doch dies war meine Ferndiagnose. Robin Alexander ist nahe an den Protagonisten dran. Er sollte es besser wissen.

Robin Alexander: Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report. Siedler Verlag, Mai 2021, 384 Seiten. Das gebundene Buch bestellen bei Amazon.de. Die digitale Ausgabe als Kindle eBook: Machtverfall: Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report.

Ebenfalls lesenswert von Robin Alexander: Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Inneren der Macht. Siedler Verlag, 2017, 288 Seiten. Das gebundene Buch bestellen bei Amazon.de.

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Buchkritik / Rezension von Machtverfall. Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik: Ein Report vom 8. Juli 2021 um 19:30 deutscher Zeit.