Marine Le Pen könnte französische Präsidentin werden

Apr 02, 2022 at 18:05 1988

Noch Anfang März war Präsident Emmanuel Macron der grosse Favorit bei der Präsidentschaftswahl 2022, die in zwei Wahlgängen am 10. und 24. April entschieden wird. Es gilt zuerst, auf dem ersten oder zweiten Platz zu landen – sofern, wie zu erwarten, niemand im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit holt -, um dann in der Stichwahl die Nase vorn zu haben.

Präsident Macron liegt nach wie vor vorne, doch bei einer Stichwahl gegen die Kandidatin vom Rassemblement National (ehemals Front National) könnte es knapp werden, denn die Rechtsextreme kommt in einer Umfrage des Instituts Elabe (vom 28. bis 30. März realisiert) auf 47,5%, knapp hinter Macron mit 52,5%, was im Bereich der Fehlerquelle liegt. Marine Le Pen könnte folglich französische Präsidentin werden, insbesondere, wenn viele von Macron enttäuschte Liberale sowie viele linke und grüne Wähler bei der Stichwahl zuhause bleiben sollten.

Zu Beginn des Wahlkampfs sorgte der Rechtspopulist und Pseudo-Intellektuelle Eric Zemmour, der viel gelesen und wenig verstanden hat, für Furrore. Er grub Marine Le Pen das Wasser ab. Doch dann stockte seine Kampagne. Gleichzeitig half seine noch extremere Positionierung, die Dame vom Rassemblement National „moderater“ erscheinen zu lassen. Das entsprach ihrer seit über einem Jahrzehnt betriebenen Strategie der Repositionierung „Entteufelung“ (dédiabolisation), übrigens als „weder rechts noch links“, und das lange vor Macron. Ähnlich wie Giorgia Meloni von den Fratelli d’Italia (FdI) im Nachbarland Italien versucht sie im Wahlkampf sowie in den sozialen Medien freundlich, umgänglich und moderat aufzutreten. Und es funktioniert.

In Wahrheit sind Marine Le Pen und das Rassemblement National weiterhin weitgehend dem Programm des alten Front National verbunden: antiliberal, antidemokratisch, antirepublikanisch. Marine Le Pen möchte die Verfassung, die Republik, das Konzept der Demokratie und die Gesetze ändern. Ähnlich wie bei ihrem „Freund“ Wladimir Putin würde sich namentlich nicht so viel ändern, doch inhaltlich würden „Demokratie“ und „Republik“ in ihr Gegenteil verkehrt. Die erste Massnahme, die sie nach einer nun auf Grund von Umfragen durchaus möglichen Wahl treffen würde, wäre die Ansetzung eines Referendums zu einem bereits formulierten Gesetz zum Thema Staatsbürgerschaft, Identität und Immigration. Marine Le Pen und das Rassemblement National sind nach wie vor rechtsextrem. Was ihr im Gegensatz zu ihrem Vater besser gelungen ist, ist die Bindung der Arbeiter und kleinen Angestellten an ihre Partei. Die Sozialisten (PS) haben diese Wählermassen längst verloren. Würde Marine Le Pen gewählt, würde Frankreich radikal verändert werden.

Wladimir Putin hat bereits mit dem Brexit einen riesigen Coup gelandet, denn er und Oligarchen sowie andere ihm nahestehnde Persönlichkeiten haben die Tories jahrelang hofiert und Einfluss gekauft. Die Konservativen und inbesondere der heutige Premierminister Boris Johnson, der davor jahrelang Bürgermeister von London war, liessen sich beeinflussen, sich in ihren Fantasie-Vorstellungen bestärken. Der Brexit hat die EU und das Vereinigte Königreich geschwächt. Das UK war noch Deutschland in etwa auf der Höhe mit Frankreich die zweitwichtigste Wirtschaftsmacht in der EU, zusammen mit Frankreich sind sie die einzigen Europäer, die Nuklearwaffen besitzen und permanent im UNO-Sicherheitsrat sitzen. So wie Boris Johnson und Nigel Farage, Viktor Orban und andere, so ist Marine Le Pen eine nützliche Idiotin Putins bei der weiteren Schwächung der EU, ja des Westens insgesamt. Die Kandidatin des Rassemblement National steht sowohl der NATO wie der EU ablehnend gegenüber. Viele Franzosen fremdeln mit den USA, von denen sie im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg entscheidend unterstützt wurden. Mit Marine Le Pen könnte der feuchte Traum Putin, einer Zerschlagung von NATO und EU vielleicht wahr werden. In jedem Fall würde sie in jene Richtung arbeiten.

Die oben erwähnte Umfrage des Instituts Elabe vom 28. bis 30. März 2022 zeigte, dass 79% der im ersten Wahlgang potenziellen Wähler des rechtsextremen Kandidaten Eric Zemmour im zweiten Wahlgang vom 24. April bereit wären, für Marine Le Pen zu stimmen. Dies gilt ebenfalls für 27% der Wähler von Valérie Pécresse, der Kandidatin der konservativen Republikaner, sowie für 31% der stramm links stehenden Wähler von Jean-Luc Mélenchon.

Von den Republikanern hat zum Beispiel bereits Eric Ciotti vor den Vorwahlen der Konservativen, bei der er hinter Valérie Pécresse auf dem zweiten Platz landete, öffentlich kundgetan, dass er bei einer Stichwahl zwischen Eric Zemmour und Emmanuel Macron den Rechtspopulisten wählen würde. Warum also nicht Marine Le Pen wählen, würden Eric Zemmour und andere sich bei der Stichwahl hinter die Vertreterin des Rassemblement National und gegen Macron stellen – und Eric Ciotti die Möglichkeit bekommen, das von ihm angestrebte Innenministerium in der kommenden Regierung zu erhalten?

Die Kandidatin der Republikaner, Valérie Pécresse, hat viele Fehler gemacht. Sie war zudem in einer schwierigen Position, weil sie die von Eric Zemmour in Versuchung geratenen wie Eric Ciotti an sich binden und gleichzeitig Macron das Wasser abgraben musste. Ein unmöglicher Spagat. Zudem hielt sie im Pariser Zenith eine schlechte, eindeutig nach rechts gerichtete Wahlkampfrede vor Tausenden. Die Wähler ziehen jedoch das Original der Kopie vor. In ihrer Rede erwähnte sie sogar den angeblichen „Bevölkerungsaustauch“ (grand remplacement). Eric Zemmour und andere Rechtspopulisten und Rechtsextreme verkaufen diesen als Plan der Eliten. Muslime aus Nordafrika sollen die Franzosen im eigenen Land verdrängen. Valérie Pécresse sagte, der „Bevölkerungsaustauch“ sei keine „Fatalität“, also vermeidlich («Pas de fatalité, ni au grand déclassement, ni au grand remplacement»), doch damit gab sie dieser Verschwörungstheorie indirekt Kredit. Damit konnte sie wie erwähnt die Wähler von Zemmour oder Le Pen nicht gewinnen, vergraulte jedoch gleichzeitig von Macron enttäuschte Liberale, Zentristen, Bürgerliche.

Emmanuel Macron hat seine Rentenreform, die nach der Vorstellung auf viel Kritik stiess, auf die lange Bank geschoben. Der liberale Reformer kam zudem durch die Gelbwesten und die Affäre Benalla unter Druck. Die Pandemie und jetzt zuletzt noch Putins Krieg gegen die Ukraine haben seinen Reformeifer erlahmen lassen. In der Covid-Krise griff er zu Massnahmen, die alles andere als liberal waren. 2021 verzeichnete Frankreich zudem die schlechteste Handelsbilanz in der Geschichte der Republik mit einem Defizit von 84,7 Miliarden Euro. Das Budgetdefizit lag bei 6,5%. Die Staatschulden stiegen massiv auf rund 113% des BIP Ende 2021. Frankreich gehört nun eindeutig zum «Club Med», zu jenen Südeuropäern, die über ihre Verhälntnisse leben. Den letzten Budgetüberschuss verzeichnete Frankreich im Jahr 1974.

Mit den Themen Rentenreform, Staatsschulden, Budgetdefizit sowie Abbau der Staatsbürokratie hätte Valérie Pécresse Wähler von der populistischen und extremen Rechten sowie vor allem von Macron enttäuschte gewinnen können. Doch mit dem bereits unter Laurent Wauquiez vollzogenen und von ihr fortgesetzten Rechtsrutsch, der nicht richtig zu ihrem bisherigen politischen Werdegang passt, vergeigte sie ihre Chance auf den Einzug in die Stichwahl, der zwischenzeitlich möglich schien. Valérie Pécresse gehört wie Emmanuel Macron zur politischen Elite und ist anders als Marine Le Pen, Eric Zemmour und Jean-Luc Mélenchon jemand, der Präsident Macron im TV-Duell durchaus das Wasser reichen könnte.

Die Umfrage des Instituts Elabe zeigte, dass 12% der potenziellen Wähler von Zemmour im ersten Wahlgang im zweiten zu Macron wechseln könnte. Dies gilt zudem für 28% der Wähler von Mélenchon und 43% der Wähler von Pécresse. Die im Moment wahrscheinliche Stichwahl zwischen Le Pen und Macron könnte sehr knapp ausfallen. Die Wahldebatte(n) zwischen den zwei Wahlgängen könnte(n) die Entscheidung bringen. 2017 hatte Marine Le Pen dabei völlig versagt.

Präsident Macron hat sich einige Fehltritte geleistet: Gelbwesten, Benalla-Affären, rhetorische Ausrutscher («petites phrases»), zuletzt am 4. Januar 2022 gegenüber Ungeimpften: «les non-vaccinés, j’ai très envie de les emmerder». Der Satz lässt sich nicht direkt übersetzen, doch das Niveau der Wortwahl wird mit «anscheissen» am besten wiedergegeben, auch wenn dies im Deutschen eine etwas andere Bedeutung hat.

Eric Zemmour hat auf der extremen Rechten viele Wähler gefischt und sogar die Unterstützung von Marion Maréchal, der Enkelin von Jean-Marie Le Pen und der Nichte von Marine Le Pen erhalten. Doch das entfaltete dann nicht die gewünschte Wirkung. Zum einen, weil Zemmour zu extrem, fremden- und frauenfeindlich ist, zum anderen, weil Putin seinen 2014 begonnenen Krieg gegen die Ukraine eskalierte. Der rechthaberische Eric Zemmour schaffte es anders als Marine Le Pen nicht, sich von Putin zu distanzieren. Seine Umfragewerte sanken wieder, denn Wähler besinnen sich zum Schluss auf die Nützlichkeit ihrer Stimme (vote utile): Sie geben jenem Kandidaten die Stimme, der eine Chance auf die Stichwahl hat.

Erstaunlich ist, dass Marine Le Pen von Putins Krieg nicht berührt wird. Sie hat sich «geschickt», wenn auch nicht wirklich glaubwürdig, vom Krieg als klarem Bruch internationalen Rechts distanziert (violation manifeste du droit international), doch meinte sie auch, sei der Krieg vorbei, könne Russland wieder ein Alliierter Frankreichs werden. Die Kandidatin des Rassemblement National hat jahrelang einen Schmusekurs gegenüber Putin gefahren, dem sie als nützliche Idiotin diente. Sie musste gar 1,2 Millionen Wahlkampftrakte vernichten, weil sie darin auf einem Foto zusammen mit Putin im Kreml zu sehen ist (es ist übrigens das halbe Foto oben auf dieser Seite).

Die Gegner von Präsident Macron haben bis zuletzt nach einem Angriffspunkt, nach einer Affäre gesucht, um Macron wie einst Fillon zu «versenken». In den letzten Tagen kommt die «Affaire McKinsey» ins Rollen. Dabei geht es um rund ein Dutzend Beratungsinstitute, neben McKinskey zum Beispiel Accenture, Boston Consulting Group, Capgemini, Ernst & Young und andere, die lukrative Beraterverträge mit Präsident Macron, seiner Regierung und französischen Ministerien abgeschlossen haben. Dies ist nicht neu. Doch vor Macron handelte es sich um ein jährliches Volumen von rund 400 Millionen Euro. 2021 stieg die Summe auf über eine Milliarde Euro an, wobei die Qualität der Studien, der Beratungstätigkeit grosse Unterschiede aufweist. Die Diskussions-Fernsehsendung C dans l’air hat dem Thema eine Ausgabe gewidmet. Darin erklärten der Meinungsforscher Jérôme Fourquet des Instituts IFOP und andere, Frankreich habe Eliteschulen, auf denen hohe Funktionäre auf das Beraten und Lenken der Administration vorbereitet würden. Bei fünf Millionen Funktionären in Frankreich sei vielen Wählern nicht klar, weshalb private Firmen hochdotierte Beraterverträge erhielten, um Reformen voranzutreiben. Sie benützten englisches Vokabular wie die Vertreter der Macronie. Zu den Reformen gehörte jene der Eliteschlule ENA. Für viele Gegner Macrons hat das einen schlechten Geschmack. Sie sehen darin eine Strategie, eine Ideologie am Werk. Im Februar 2022 erschien übrigens zu diesem Thema das Buch Les Infiltrés – Comment les cabinets de conseil ont pris le contrôle de l’Etat von Matthieu Aron und Caroline Michel-Aguirre (bestellen bei Amazon.fr). Wir befinden uns auf den letzten Metern vor der Präsidentschaftswahl. Neben berechtigter Kritik geht es jetzt natürlich auch um Polemik. Die eigene Basis muss mobilisiert werden. Die Gemüter sind erhitzt.

Die Zukunft Europas steht auf dem Spiel. Ist es wichtiger, dass unter Emmanuel Macron lukrative Beraterverträge an private Firmen sich im Volumen mehr als verdoppelt haben – es geht um Beratung, nicht um Entscheidung über Reformen – und dabei Fehler gemacht wurden, oder dass Marine Le Pen eine Putin-Vertraute ist, deren Partei aus Russland Milliardenkredite erhalten hat und die gegen EU und NATO ist?

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Das Foto oben zeigt Marine Le Pen (Ausschnitt aus einem Treffen von Marine Le Pen mit Wadimir Putin vom 24 März 2017. Quelle: kremlin.ru/events/president/news/54102/photos. Licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Wikimedia.

Artikel vom 2. April 2022 um 18:05 deutscher Zeit. Letzte Aufdatierung (Budgetdefizit und Staatsschulden) am 4. April 2022 um 11:24.